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Solidarität

Wenn die Hutmacher heute einen Streik beginnen, so haben sie die Aussicht, ihn siegreich zu beenden – durch ihre Solidarität. Wenn die Setzer einer großen Zeitung ihre Lohnforderungen erhöhen, so wird ihr Streikbeschluß, einmal gefaßt, den Unternehmer zu Verhandlungen zwingen, denn die Setzer sind solidarisch. Wenn aber die geistigen Arbeiter einen Streik inszenierten … ach! sie fangen gar keinen an.

Das Gefühl der Solidarität unter geistigen Arbeitern ist nicht vorhanden. Die Sache liegt heute so, dass jeder, aber ausnahmslos jeder Schriftsteller seinen Kollegen literarisch wertet und danach mit ihm verkehrt: er tadelt oder lobt ihn, er nimmt ihn für voll oder tut ihn verächtlich ab. Aber weiß er denn nicht, dass die geistige Arbeit mit dem Augenblick, wo sie das stille Studierzimmer verläßt und auf dem Markt gehandelt wird, Ware ist, Ware, und weiter nichts als Ware? Das weiß er nicht, und das will er auch nicht wissen.

Der geistige Arbeiter glaubt, ein Künstler müsse allein stehen. Und nun lehnt er ab, mit seinen Nachbarleuten, die neben ihm schaffen, zusammenzugehen, weil das seiner nicht würdig sei. Ist es das wirklich nicht?

Die bekannt elenden Verhältnisse, die den Schriftsteller umgeben, sind nur zu erklären aus der übergroßen Leichtigkeit, mit der der Unternehmer den einzelnen aushöhlen kann. Der kann sich ja nicht wehren – und die andern helfen ihm nicht. Der ist ja nur einer – und einer ist gezwungen, das Honorar zu schlucken, das man ihm vorwirft, die Bedingungen anzunehmen, die man ihm stellt – ein braves Hampelmännchen in der Hand des geschickten Kaufmanns.

Gibt es dagegen kein Mittel? Es gibt eines.

Dieses Mittel ist die absolute Solidarität der geistigen Arbeiter. Man muß das Epitheton »absolut« hinzusetzen, weil ja in der Tat bei uns die eigentümlichsten Verhältnisse auf diesem Gebiete herrschen. Jeder nämlich erkennt die Forderungen, die alle unsere Organisationen stellen, gern an – nur … »Nur«, sagt er, »für mich – also mit mir ist das so eine Sache – sehen Sie – ich kann da nicht – –« Und jeder ist ein Ausnahmefall, und jeder ist etwas ganz Besonders, und jeder kann nicht und möchte und ist leider verhindert.

Hier ist eine Aufgabe – hier ist ein Weg – hier ist eine Hilfe. Das erste, was den Arbeitern einen wirtschaftlichen Kampf überhaupt erst ermöglichte, war das Gefühl für Solidarität. Der Streikbrecher ist ein Schuft – dieser Satz stand ehern fest. Und es gab keine Ausnahmen. Bei uns?

Ich besinne mich, dass in einer Redaktionskonferenz einer aufstand und sagte: »Wer den Beschlüssen unseres Ausschusses zuwiderhandelt, sollte geächtet werden!« – Und es erhob sich ein andrer und sprach also: »Geächtet … meine Herren Kollegen … ist das nicht ein etwas hartes Wort? Wir sind doch Künstlernaturen … «

Nein, sie ächten nicht, diese Künstlernaturen. Merkwürdig, wie sie nur künstlerisch in Honorarangelegenheiten empfinden – aus ihren Werken spricht so häufig der Merkantilist … Nein, sie ächten nicht.

Ja, es fällt gradezu auf, wenn einmal einer von uns Korpsgeist bezeigt. Die münchner Zeitschrift Zeit im Bild zankte sich eines Tages mit W. Fred – unsere Organisation nahm sich Freds an, und ich zog daraufhin alle meine Beiträge zurück. Die Redaktion war baß erstaunt: »Sie werden doch nicht«, hieß es in ihrem Brief, »für Herrn Fred die Kastanien aus dem Feuer holen … « Und: gebildete Menschen tun derlei nicht! Diese Melodie tönt durch alle die zartgemeinten Lieder eines Unternehmertums, das instinktiv fühlt, von woher ihm die größte aller Gefahren droht: von der Solidarität der geistigen Arbeiter.

Wie steht es denn um uns? Nehmen wir doch einmal an, die gesamte Redaktion eines Pressekonzerns träte in den Streik. Heute stehen die Sessel leer – morgen sind sie alle besetzt – das Haus würde gestürmt werden von Streikbrechern. Alle, alle kämen gelaufen: Professoren und »freie« Schriftsteller und Dilettanten und Stellungslose und Gott weiß wer. Und die streikenden Redakteure würden auf der Straße verrecken.

Zwei Gefahren bedrohen den wirtschaftlichen Aufschwung unseres Berufs auf das ärgste: der Dilettant – und wir selbst. Wir selbst sind uns die größte Gefahr – wir selbst bewirken, dass der Unternehmer unserer zwölf für ein Dutzend hält – wir selbst sind schuld daran, dass wir alle gar so leicht zu ersetzen und gar so billig zu haben sind.

Es sind immer dieselben traurigen Erscheinungen: der zu Ruhm und Geld gekommene Dichter, der geschmeichelt den Aufforderungen der Redaktionen nachkommt, ohne sich jemals seiner Kollegen anzunehmen; der Dilettant, der noch Geld dazugibt, wenn er nur gedruckt wird; der Zeilenschinder, der schreiben muß, weil ihm der Hunger im Nacken sitzt. Und wir andern –?

Wir sollten nicht länger zusehen. Wir haben nun täglich aus der Arbeit anderer Organisationen lernen können, wie die Arbeit und ihre moralische Wertung gar nichts mit dem zu tun hat, was sie darstellt, wenn sie Ware geworden ist. Wir singen nicht mehr, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet. Denn die Angelegenheit hat ein doppeltes Gesicht: wer bei der Arbeit an das Publikum und an sein Honorar denkt, ist ein Schmierer. Wer aber beim Vertrieb nicht an sein Honorar denkt, ist ein Dummkopf.

Diese Anschauungen nutzen nichts, wenn ihr sie nicht in unsere Organisationen hineintragt. Wirkt! Tut euch zusammen! Schärft die Gewissen! Seht das Ziel: eine große Gewerkschaft, ein Bund, der den Markt beherrscht! Wir wollen nicht tyrannisieren – wir wollen für uns menschenmögliche Lebensbedingungen schaffen, unter denen sich arbeiten läßt. Der Unternehmer sei gezwungen, nur organisierte geistige Arbeiter einzustellen – so rotten wir den Dilettanten aus. Und zwingen wir uns, einer für alle und alle für einen zu stehen – so rotten wir den Ausbeuter aus.

Eine Provinzzeitung hat vor kurzem einen Mann gesucht, der den Leitartikel zu schreiben hatte und den lokalen Dienst versehen und nachts telefonieren und Kritiken verfassen mußte – dafür sollte er ein viertel Jahr umsonst arbeiten – in der Gaunersprache nennt man das »volontieren« – und dann wurde ihm ein Gehalt von einhundertfünfzig Mark monatlich zugesagt. Jammert ihr? Zieht ihr einen bitteren Mund? Es ist an uns allen, das zu verhindern. Es gibt keine Ausnahmen – glaubt einer im törichten Übermut, ohne den Stand wirtschaftlich arbeiten zu können, dann stoßt ihn aus – sei es, wer es sei. Wir können keine Primadonnen brauchen – dazu ist die Zeit zu hart. Und wir werden Erfolg haben, wenn wir uns zusammenschließen, jeder, jeder, jeder – und wenn uns das Standesinteresse über alles Persönliche geht. Denn einzig das wäre Solidarität.

Kurt Tucholsky
Der Schriftsteller, 1921, Nr. 8, S. 1-2.