Zum Hauptinhalt springen

Der sinnlose Film

Neulich spülte mich die Menge von den Boulevards in einen Cinéma, geb. Kintopp – und da gab es einen Tierfilm, der Abend war also nicht verloren. Aber so, wie man sich den großen Chaplin oft mit vielen kleinen dummen Filmen erkaufen muß, so lief auch hier vorher ein »Beiprogramm«, eine Groteske, und noch dazu eine von Franzosen hergestellte. Es war das Ende von weg, der Schrecken der Schrecken.

Ein Auto fuhr zitternd vor, ihm entstiegen ein Mann, eine dicke Dame, vier Kinder, drei Hunde; Kind bindet Hund an, Hund läuft, mit heraushängender Zunge, und schleift eine Tonne hinter sich her; ein Affe klettert auf einen Papageienkäfig; wo der herkommt, ahnt niemand; die dicke Dame tritt in ihren Salon – welcher Tritt! Welcher Salon! – und entdeckt eine Katze in der Suppenterrine – nun läuft der Film zu schnell, so schnell, dass man nicht folgen kann und überhaupt nichts mehr versteht, keinen Zusammenhang, keine Folge, keine Pointe, alles wirbelt und wirrt durcheinander, die Katze bellt, der Hund buckelt, das Kind schreit, einer fährt auf einem Brett im Staub Schlitten, der Hund zieht, die Erwachsenen schlagen alle Arme über dem Kopf zusammen, die Kinder sind mit Ruß beschmiert, immer mehr Tiere kommen … man wähnte sich in einem Irrenhaus.

Nach vier Minuten sah ich nicht mehr zu, ich konnte nicht mehr zusehen, es tat weh in den Augen, und der Kopf schmerzte vor so viel Unsinn. Da blickte ich ins Publikum.

Hier saßen also etwa achthundert ernsthafte Menschen, die am Tage einen richtigen Beruf hatten: Buchhalter und Immobilienkaufleute und Warenhausangestellte und Werkmeister und Schneiderinnen und Anprobiermädchen (wie unfeierlich im fremden Lande alles wird, wenn man es beim richtigen Namen nennt – »Midinettes« klingt. Probierdame schon weniger … ) und Arbeiter und staubige Beamte – und dann ihre Frauen, die um Sous in der Markthalle feilschen und die Wirtschaft führen und Krieg mit der Concierge … da saßen sie. Da es keine Freibillette gibt, so war anzunehmen, dass auch alle pro Mann und Nase bezahlt hatten. Da saßen sie und sahen sich diesen grenzenlosen Unfug mit an. Sieh – jetzt lief wieder die große Katze mit der kleinen über die Leinwand, sie huschten auf einen Zaun, zwei Hunde hinterher, zwei kleine Jungen auf Rollschuhen hinterher, die dicke Dame hinterher – ein Königreich für eine Erklärung! Was also taten die achthundert –?

Sie sahen ernsthaft zu. Sie schauten auf die Leinwand wie die Schüler auf die Tafel des Lehrers, diesen Film »hatten sie auf«, er war jetzt »dran« – und sie blickten mit glanzlosen Augen auf das Pensum der Stunde. Das Pensum war sorgfältig vorbereitet worden: in kleinen Bürozimmern der Film-Branche war viel telefoniert, geschrieben, noch mehr geschwatzt worden, windige Regisseure hatten sich vorgestellt und waren wieder herausgeschmissen worden, irgendeiner von ihnen wurde engagiert, die, wenn man so sagen darf, Darsteller hatte er rasch zusammengesucht, die Tiere waren in kleinen Käfigen und Kästen auf den Aufnahmeplatz gebracht worden, dann waren sie mit den Kindern, den Käfigen, den dicken Damen und den Katzen und Hunden und Affen auf eine Chaussee gefahren, und der Regisseur hatte mit den Armen geschwenkt und mit der Pfeife gepfiffen, und los wars gegangen, dass es nur so stäubte … ! Hier saßen die achthundert, in artige Zuschauer verwandelt.

Das Klavier klimperte, die Geige im Orchester wurde von jemand, der dazu verpflichtet war, jämmerlich gekratzt, worauf sie weinte – und die achthundert sahen zu, durch einen Schleier von Tränen der Langeweile. Es war fast ganz still, manchmal kam jemand, dann klappten Sitze, eine Frau hustete trocken … dann erfüllte wieder jenes mystische Geräusch, das auch die stillste Menge macht, den Raum. Sie sahen zu, denn sie hatten bezahlt.

Und ich dachte, was wohl geschehen würde, wenn ihnen jemand den Inhalt dieses sinnlosen Films erzählen wollte – sie würden ihn beiseite stoßen und ihres Weges gehen. Oder wenn jemand ihnen den Film anbrächte und ihn – für eine winzige Summe – verkaufen wollte, sie wendeten sich ab. Oder wenn jemand ihnen zumutete, diesen Kohl zu lesen (soweit er sich aufschreiben ließe – unvorstellbar blieb freilich der Gedanke, dass zu diesem Tohuwabohu jemals ein Manuskript vorhanden war) – warum in aller Welt sahen diese Leute artig hin, saßen auf ihren Sitzchen und ließen das helle schwarz-weiß-graue Gewirbel an sich vorübergleiten, ohne zu mucken?

Weil gar nichts da war als Bewegung, und hier und da, an seltenen Flecken, eine winzige Spekulation auf den Zuckergehalt in der Masse: kleines Kind wackelt allein auf weiter Chaussee, oder Spekulation auf die dem Menschen innewohnende Schadenfreude: Mann bekommt Rußtopf auf Gesicht … sie sahen artig hin, weil der Film vorüberzappelte, ohne etwas mitzuteilen. Stände da oben zum Beispiel einer, der nicht in den Krieg marschieren wollte, weil ihm sein Leben wichtiger erschien als das, mit Verlaub zu sagen, Vaterland; stände da einer, der sich gegen den Terror von Staat, Kirche, Familie oder Industrie aufbäumte … ! Ah, der ganze Saal wäre in Bewegung; Pfiffe und Klatschen und »La barbe!« und Hoch! und Nieder! und was man so singt … Hier aber war gar nichts; auf keine Tränendrüse wurde gedrückt, kein Leiermann und sein Kind humpelten vorüber, das kostenlose Mitleid erbarmungsloser Kleinbürger ohne Verpflichtung anjammernd; kein Filmschuft peitschte unschuldige Mädchen, dass die Fetzen nur so flogen, hier und da ein Stückchen Fleisch fast versehentlich freilegend (schon weg!) – keine Mutter sank an der Lagerstatt ihres sterbenden, vierundfünfzigjährigen Kindes unter brummender Orgelbegleitung sanft in sich zusammen … hier war nur Gezappel und Bewegung, und immer wieder, wieder gewechselter Schauplatz, laufendes Tier, dressiertes Kind und falsch erstaunter Erwachsener. Die achthundert saßen und schauten zu.

Zwölf Minuten dauerte der Film – zwölf Minuten sind sehr lang, wenn sie lang sind. Aber sie genügten, darzutun, was man mit dem Menschen so alles machen kann, wenn man es nur richtig anfängt. Er läßt sich einen sinnlosen Film vorführen, muckt nicht und zuckt nicht, sieht artig hin und bezahlt noch dafür. »Reine«, pflegte meine alte Zeitungsfrau am Dönhoffplatz zu sagen, »reine wie ins Leben.«

Peter Panter
Vossische Zeitung, 11.03.1928.