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Sigilla Veri

Aus dem Antisemitismus kann erst etwas Richtiges werden, wenn ihn ein Jude in die Hand nimmt.

Roda Roda

So um die zehnte Abendstunde, wenn die Luft in den Kneipen schon etwas dick geworden ist und der Alkohol die Gehirntätigkeit verlangsamt hat; um die zehnte Abendstunde, wenn die Stammtischrunden der alten Majore, der Tierärzte, Studienräte und Bergassessoren in mystischer Gelähmtheit dumpf hinter ihren Gläsern hocken –: da bringt der deutsche Mann das Gespräch gern auf die Juden.

Schwer setzt der aufrechte Trinker sein Glas vor sich hin, wischt sich den Bart, putzt den Kneifer und spricht: »Daran sind meines Erachtens nach nur die Juden schuld!« – »Wahr, wahr … « murmelt es um den Tisch, und auch Frieda, die Kellnerin, und Heinrich, der Herr Ober, nicken. Und der Oberbergrat fährt fort: »Meine Herren, schon im Jahre 1677 … « Woher weiß er das –?

Es gibt eine Stammtisch-Wissenschaft, die gilt nur von abends um halb neun bis um drei Viertel zwölf. Am Tage haben die Leute alles vergessen: Daten, Namen, Büchertitel und den Rest. Aber eines ist ihnen geblieben: das Bewußtsein, dass die Juden schuld sind.

Nun aber ist, um diesen Wissenslücken abzuhelfen, gegen die Radfahrer endlich das große und schöne Werk erschienen, dessen wir so lange entraten haben:

›Sigilla Veri‹

(Ph. Stauffs Semi-Kürschner)

Lexikon der Juden, -Genossen und -Gegner aller Zeiten und Zonen, insbesondere Deutschlands, der Lehren, Gebräuche, Kunstgriffe und Statistiken der Juden sowie ihrer Gaunersprache, Trugnamen, Geheimbünde etcetera.
Unter Mitwirkung gelehrter Männer und Frauen aller in Betracht kommenden Länder im Auftrage der »Weltliga gegen die Lüge« in Verbindung mit der »Alliance chrétienne arienne«.

U. Bodung-Verlag.


Das hat mir schon lange gefehlt. Denken Sie doch nur –!

Was die Kunstgriffe der Juden angeht, so benötige ich deren Kenntnis wie das liebe Brot – das wilde Volk der Verleger und der Filmleute macht unsereinem das Leben nicht leicht. Und die Gaunersprache? ›Requisition‹ statt Diebstahl? – Und die Trugnamen? ›Lindström‹? – Und die Geheimbünde? Es muß sehr interessant sein.

Doch ist es nicht ganz leicht, das Buch zu erhalten. Ich habe bisher nur den Prospekt mit den Probeseiten bekommen.

Bedingungen, gleichzeitig Bestellschein:

  1. Ich bin nichtjüdischer Herkunft und mit Juden weder versippt noch verschwägert.

  2. Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich nicht von dritter Seite aus als Käufer-Strohmann vorgeschoben bin.

  3. Ich verpflichte mich

c) alle Stellen, in denen eine Beleidigung gefunden oder gesucht werden könnte, dem Verlage zwecks Ausmerzung mitzuteilen. Der Verlag legt Wert darauf, sachliche wissenschaftliche Aufklärung zu bringen … Die sieht so aus:

Carbe, geb. Cohn, Dr., Gerichtsassessor, Neffe des Dr. h. c. Ru. Mosse, Erbe des ›B. T.‹ Berlin. Ihm wurde das populäre Gedicht ›Haben Sie nicht den kleinen Cohn gesehn?‹ auf den Leib geschrieben, er erhielt dann 1917 vom preuß. Min. des Innern durch den guten Freund des Hauses Mosse, Ministerialdirektor Freund, den neuen Namen: Carbe. Wenn ich den Verlag darauf aufmerksam machen darf: in diesem Abschnitt sind zwei Unrichtigkeiten enthalten, aber die muß er sich schon allein heraussuchen. Gegen ein Freiexemplar des Werkes bin ich bereit, ihm zu sagen, wer in Wahrheit der kleine Cohn gewesen ist. Herr Carbe war es nicht. Goebbels auch nicht.

Ein Frei-Exemplar? Der Verlag wird sich hüten; so hoch bemißt er den Wert dieser Mitteilung nicht. Denn sein Werk ist teuer, so teuer, als wäre es echt jüdisches Produkt. Das sechsbändige Lexikon kostet im Buchhandel pro Band 70 RM.; der Subskriptionspreis ist, je nach der Zahlungsweise, 50 RM. pro Band, oder 46 RM., bis herunter zu 35 RM., heißt ein Geschäft.

Die Probeseiten des Prospekts haben es in sich.

Einstein zum Beispiel, dem ein eignes Kapitel gewidmet ist, hat ebenso wie Soldner den Faktor 2 vergessen; da staunen Sie. Was das heißt? Ich habe keine Ahnung, der Leser aber auch nicht; es ist die typische Stammtischwissenschaft, aus Zeitungsausschnitten zusammengesetzt, aus Büchern hervorgekramte Details, und auf alle Fälle – Ober, noch ein Halbes! – hat der Einstein mal Unrecht.

Über Magnus Hirschfeld: »Wenn man nun erwägt, dass das Laster in dem stark mischrassigen, von Abkömmlingen spanischer Juden förmlich wimmelnden Holland von jeher verbreitet war, und dass dort Personen jeden Standes und Alters gewohnheitsmäßig die gemeinsten Ausdrücke im Munde führen, so ist dem Holländer durch die Propaganda des Wissenschaftlich-Humanitären Comités die Möglichkeit gegeben, das orientalische Laster in seinem Lande ›wissenschaftlich gestützt‹ auf ›deutsche‹ Einflüsse zur Schädigung des deutschen Ansehens zurückzuführen, um dadurch zugleich die Juden und Mischlinge, die es doch in den arischen Ländern verbreitet haben, zu entlasten.«

Über Knigge, der gesagt hat, dass es weder für den Denker noch für den Menschenfreund einen Unterschied zwischen Juden und Christen gibt, welches Diktum offenbar aus dem Zusammenhang gerissen ist: »Dieser Satz ist völlig frei aus dem Handgelenk geschüttelt«.

Zwei volle Probeseiten über den ›Kulturbolschewismus‹ – das ist bekanntlich alles, was einem nicht paßt, wie ja denn der Antisemitismus der Sozialismus der Dummen ist.

Schöne Probeseite über Kutisker, Iwan – die über den Pastor Craemer und den Devaheim-Skandal ist offenbar noch nicht fertig.

Kurz: Stammtisch.

Antisemitismus … Herrschaften, warum engagiert ihr nicht mich! Für 67,50 Mark monatlich und freie Pension mit zweimaligem sonntäglichem Ausgang liefere ich euch über die Juden ein Material, das wenigstens echt ist – ihr kennt sie nicht einmal.

Immer wieder erschütternd ist die partielle Gehirnlähmung bei den Deutschen: überall da eine Verschwörung zu wittern, wo sie mit ihrem Wesen auf irgendeinen Widerstand stoßen, Willy Haas hat für den Fall Ludendorff das stark theologische Moment dieses Hergangs aufgezeigt; man lese das in seinen ›Gestalten der Zeit‹ nach. Sie stellen sich wirklich die Welt vor, wie sie in den Kinderfibeln gemalt wurde: unten im Keller sitzen spitzmützige Juden und kochen, finstere Gebete murmelnd, eine herrliche Dynamitsuppe gegen die Gojim. Ihr ahnungslosen Esel!

Warum packt ihr den Juden nicht da, wo er wirklich zu fassen ist! In seiner engen Ichbezogenheit; in seiner ewigen Empfindlichkeit, die ihn aufschreien läßt, wenn ihm einmal einer die Wahrheit sagt; in seinem Aberglauben, welcher annimmt, der, der schneller denke, sei klüger als der, der langsam denke; in seiner wahnwitzigen Eitelkeit, die besonders für Deutschlands Fluren die jüdische Klugheit nur aus einem Grunde hat statuieren können: weil die andern meist noch dümmer sind. An der Levante oder gegenüber den Schotten hat der Jude nichts zu melden – die stecken ihn alle Tage in den Sack des Handels. Ach, ihr ahnungslosen Esel! Welch ein jammervoller Antisemitismus ist das! Es gibt bei euch noch eine andre Sorte: das sind die Mischtiker aus den Bezirken um Hielscher, die im Nebel ihren Pfad suchen, ihn aber bis heute noch nicht gefunden haben. Denen kann man freilich nicht beikommen – sie überschütten dich mit Vokabeln, die sie zu diesem Behuf erfunden haben, und mit dem Judentum hat auch dies nichts zu tun. Die meisten Antisemiten sagen viel mehr über sich selber aus als über ihren Gegner, den sie nicht kennen.

Wäre ich Antisemit –: ich schämte mich solcher Bundesgenossen.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 29.09.1931, Nr. 39, S. 483.