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Die Schweiz und Hindenburg

Im Schweizer Nationalrat zu Bern hat der Sozialdemokrat Schmid den Bundespräsidenten Motta zur Rede gestellt, weil der bei einer offiziellen schweizerischen Veranstaltung gesagt hat, Hindenburg lebe im Bewußtsein des deutschen Volkes wie ein Heros der Legende fort. Der Sozialdemokrat, so sagen die deutschen Berichte, bestritt dem Bundespräsidenten das Recht, durch solche Sätze die Gefühle eines großen Teiles des deutschen Volkes, das über Hindenburg denn doch anders dächte, zu verletzen. Motta verteidigte sich wenig geschickt, und, so sagen die deutschen Berichte, »der Sozialdemokrat ging nun sogar so weit, davon zu sprechen, dass Hindenburg eine stark umstrittene Persönlichkeit sei. Noch schlimmer wurde die Sache, als der sonst sehr gemäßigte Sozialistenführer Graber eine Unterscheidung zwischen dem Reichspräsidenten Hindenburg und dem Generalissimus der deutschen Armeen im Weltkriege aufstellte, der trotz allem für gewisse Scheußlichkeiten des Krieges die Verantwortung trägt und den als Held zu feiern vom schweizerischen Bundespräsidenten ein starkes Stück war.« Motta entschuldigte sich damit, dass er Hindenburg neben Foch und Joffre stellte, was offenbar als Lob gedacht war.

Wir danken dem tapfern schweizer Sozialdemokraten, dass er, ein Vertreter von Arbeitern, gegen den Hindenburgrummel aufgetreten ist – seine Parteigenossen, die im deutschen Vorstand der SPD sitzen, sind von solcher Tapferkeit weit entfernt; es muß dazu wohl erst ein Ausländer kommen. Bundespräsident Motta hat durch seine Rede weite Teile des deutschen Volkes verletzt. Das Schaumwasser der Begeisterung wird ja um den achtzigjährigen Geburtstag des Präsidenten besonders hoch spritzen; da mag denn angezeigt sein, einmal zu untersuchen, wer zur Zeit Präsident der deutschen Republik ist.

Wilhelm der Zweite hat von den Tugenden und Lichtseiten des alten Preußen nicht viel übrig gelassen. Sein billiges Komödiantentum, seine Fahrigkeit, sein mangelnder Fleiß und seine Maulfertigkeit fielen in eine böse Zeit: der industrielle Aufschwung des deutschen Volkes brachte keine Stärkung der Charaktere mit sich – sie beeinflußten sich gegenseitig, dieser Kaiser und sein Volk: und so entstand jener Typus vom Kommis-Untertan, einem nach unten sadistischen, nach oben masochistischen Gebilde, das sich vor andern Völkern vor allem durch seinen Phantasiemangel Leidenden gegenüber auszeichnete. Die Leute taten das, was sie ihre ›Pflicht‹ nannten – aber sie ließen sich ihren Dienst teuer bezahlen: bezahlen mit kritiklosem Gehorsam, mit Kadavergehorsam, mit tierischem Ernst, auf den ihre Eitelkeit ein Glanzlicht setzte – und mit jener vollkommenen Ideenlosigkeit, die immer und überall nur den Apparat sah.

Paul von Hindenburg war von diesem wilhelminischen Geiste viel weniger angekränkelt als seine Berufskollegen im allgemeinen. Er wurzelte eher in der Zeit des ›alten Herrn‹, in der Atmosphäre von Sachlichkeit und persönlicher Bescheidenheit, die man dem Einfluß Wilhelms des Ersten zugeschrieben hat. Auch hier eine Abkehr vom Geiste, aber die war wenigstens prätentionslos, still, leise – es waren getreue Kärrner, die da ihren Karren schoben.

Gegen den Offizier Hindenburg wäre an sich nicht viel zu sagen gewesen – was sie im Kriege mit ihm gemacht haben, wissen wir alle, und selbstverständlich ist diese Unterscheidung ›Präsident‹ und ›Generalfeldmarschall‹, die da zum Entsetzen der deutschen Demokraten in der Schweiz vorgenommen worden ist, zutreffend. Es geht nicht an, einem Verwaltungsbeamten, der fälschlich heute noch mit dem altmodischen Wort ›General‹ bezeichnet wird, zuzujubeln, wenn er gesiegt hat und dann, aber nur dann, zu erklären: Ja – er war der Kopf; die andern haben nur seine bedeutenden Einfälle realisiert und Befehle befolgt. Wenn man schon dieser Meinung ist, die mir strittig zu sein scheint, muß man sie auch dann anwenden, wenn der Feldherr seinen Krieg so verloren hat wie Hindenburg. Nimmt man die Siege für ihn in Anspruch, so dürfen die Opfer sich auch an ihn halten, wenn sie sich von der Soldateska so geschädigt glauben, wie etwa die Franzosen und Belgier im besetzten Gebiet, wo beim Rückzug auf die Siegfried-Linie von den Deutschen geradezu bestialisch gehaust worden ist. Das haben wir nicht vergessen.

Der Soldat Hindenburg könnte bei Seite gestellt werden, wenn außerdem noch etwas andres da wäre. Als er sich damals zur Ruhe setzte, hätte auch der schärfste Pazifist ihn nicht in den Streit zu ziehen brauchen – er gehörte der Kaste der Berufsoffiziere an, die für uns nichts Glorioses an sich hat; die Idee des imperialistischen Krieges war zu bekämpfen, die Person eines alten Mannes konnte füglich aus dem Spiel bleiben.

In dem Augenblick aber, wo der reaktionäre Teil der Deutschen sich einer durch Kriegs-Pressekonferenzen und die niedrige Taktik des Herrn Nicolai infiltrierten Popularität bedienten, um ihre Geschäfte mit einer Firma und mit einem Namen zu machen, kam alles darauf an, ob der alte Herr das mit sich geschehen ließ oder nicht. Es gelang dem Flottenverderber Tirpitz, Herrn Hindenburg umzustimmen, er nahm die Kandidatur an, vielleicht aus jener echt preußischen Idee heraus, dass es ein ›Dienst‹ sei, zu dem man ihn abkommandiere … Von diesem Augenblick an war er eine politische Persönlichkeit geworden, und nun durfte man sich mit ihm befassen.

Die braven Deutschen, die heute Zeter schreien, wenn ein schweizer Arbeiterführer den Mut aufbringt, die Wahrheit zu sagen, haben sich mit ihm befaßt. Etwas Kläglicheres als ihr damaliger Wahlkampf ist kaum denkbar – aber immerhin lese man heute ein paar Leitartikel nach, die damals für den Präsidentschaftskandidaten Marx geschrieben worden sind –: sehr viel schärfer konnten diese ehemaligen Gefreiten und Reserveoffiziere nicht schreiben. Für einen Wahlkampf war es eine Kinderei – für ihre Verhältnisse war es allerhand. Heute soll das alles nicht mehr wahr sein?

Weil Hindenburg den Eid, den er der Verfassung geschworen, gehalten hat, ist er für sie bereits das Palladium der Demokratie, der Republik, des Fortschritts, des neuen Deutschland. Davon ist keine Rede.

Ich spreche nicht einmal davon, dass es einer gewissen Komik nicht entbehrt, wie dieselbe Person von Stahlhelmern und Reichsbannerleuten mit gleich starkem Hurra begrüßt wird; jede Partei ist fest überzeugt, dass sie den richtigen Helden akklamiere und dass die andre nur Staffage sei …

Man braucht nur die Gesichter der empfangenden Gehrocksherren, der Magistratsbeamten, der Offiziere und der ›Spitzen der Behörden‹ in den einzelnen Ländern zu sehen, um genau zu wissen, was die Glocke geschlagen hat. Das Deutschland, das diesen Präsidenten feiert, mit stramm zusammengeschlagenen Hacken, mit gedrilltem Kinderspalier, mit der alten Ehrfurcht vor der alten Uniform, die der Präsident nach vollem ius noch heute trägt, dieses Deutschland ist ebenso umstritten wie der Gefeierte.

Es ist dasselbe Deutschland, das sich eines Tages diesen Krieg holen mußte, man spielt nicht mit seinem Schicksal. Es ist dasselbe Deutschland, das Unterordnung haben will, wo andre Zusammenarbeit wünschen; das auf allen Gebieten des täglichen Lebens seinen ›Siegfrieden‹ braucht, das sich ›durchsetzt‹, und das nie verstanden hat, dass sogar ein imperialistischer Sieger aus Lebensklugheit den Gegner nicht niederknüppelt. Von sittlichen Grundsätzen schon ganz zu schweigen.

Das Gefühl des Schweizers war richtig. Herr Stampfer wird dreihundert Jahre alt werden, ohne jemals einen solchen psychologischen Scharfblick sein eigen zu nennen. Der Mann ist umstritten, weil seine Schildträger von breiten Schichten der Deutschen abgelehnt werden. Nicht er – seine Leute scheinen uns ein Verderben.

Deren moralische Leitsätze haben den Horror einer Welt gebildet, die in allem uneins war, aber einig in einer Sache: in der Ablehnung gegen das, was die Leute fälschlich ›Preußentum‹ nannten. Die Sucht, aus Feigheit und Bequemlichkeit, also aus Lebensuntüchtigkeit, das Leben vorher durch aufoktroyierte Bestimmungen zu ›fassen‹; die Ambition, nicht nur eine verletzende Überlegenheitspose zu markieren, sondern sie auch anerkannt haben zu wollen; die falsche Ordnung fürs Auge; die Verlogenheit, die aus einem Betriebsfunktionär einen Gott machte und für ihn, um des einmal erteilten Ranges willen, bedingungslose Unterordnung forderte – solche Vergewaltigung des Lebens begeht man nicht ungestraft. Der deutsche Körper wand sich in Qualen, verzuckte und verstummte. Von jenseits der Grenze kam Hohn zurück, Haß, Verachtung und scharfe Ablehnung. Die instinktive Abneigung, die der so beschaffene Deutsche gegen das Ausland hatte, beruhte auf dem ganz richtigen Gefühl, dass diese Leute da ›nicht Order parierten‹, dass es Zigeuner seien, Kerls, die keine richtige ›Ordnung‹ kannten … Desto unumschränkter war dann die Herrschaft auf dem Gutshof und im Bergwerk.

Ein Tyrann macht viele.

Ein solches System züchtete Wachthunde, ein kläffendes Korps von kleinen Kaisern, kleinen Generaldirektoren, kleinen Neros, die jeder in seiner winzigen

Stellung den Großen erfolgreich nachahmten und dadurch das deutsche Leben zu einer Hölle machten. Wenn sie nur brutal waren, ging es noch an. Grauslich aber, wenn sie theoretische Unterlagen zu ihrem Tun suchten und fanden; wenn sie sich eine Ideologie konstruierten, die ihre Pfeiler im Fressen und in der Knute hatte und die sich sanft gab, kirchlich, und wenns hoch kam, auch lyrisch. Ihr vollendeter Ausdruck war der Männergesang.

Wenn in dieser preußischen Ebene eine Masse vorkam, so war sie stets Staffage für irgend ein glitzerndes Ding, das sich vor der Front als Individuum aufspielte, ohne es zu sein. Masse war das Gemeine an sich, gut genug, einen dadurch zu heben, dass er vor ihr stand. Und es gelang oft genug, dieser Masse einzureden, dass solches Treiben dem Spalier zur Ehre gereiche. In kleinem Gruppen durften sie dann mit andern Masse und Herr spielen, was sie auch taten.

Von Güte; von Herz; von dem, was das Leben lebenswert macht; von tiefem Verständnis für das Irrationale war in diesen Kreisen nichts zu merken und ist nichts zu merken. Man sehe sich daraufhin diese Strafrichter an, einen großen Teil der Gefängnisbeamten, der Soldaten und der ihnen angegliederten herrschenden Kaufleute – man tue einen Blick in diese Gesichter, und man weiß auf Anhieb: hier gibt es keine Verständigung. Es ist eine andre Welt.

Eine, die im besten Begriff ist, Deutschland wieder in dieselbe Situation zu hetzen, in der es ausgeblutet, ausgehungert, halb verkommen ist. »Deutschland«, hat Karl Kraus einmal gesagt, »Deutschland, die verfolgende Unschuld.«

Wenn der Generalfeldmarschall von Hindenburg, den sie zum deutschen Präsidenten gemacht haben, seinen achtzigsten Geburtstag feiert, wirds hoch hergehn. Seine besten Anhänger, die Mitläufer, werden ihn feiern, dass es nur so raucht. Sie, die sich den etwaigen Folgen ihrer politisch sinnlosen Angst schon durch Beziehungen zu entziehen wissen; sie, denen der Drill so tief in den Knochen sitzt, dass sie die theoretische Ablehnung der moralischen Grundsätze ihres Verehrungswürdigen schon als Sakrileg empfinden – sie haben sich erst eine historische Größe zurechtgemacht, um nachher gebildet vor ihr zu erschauern, Deren Ablehnung bedeutet Ablehnung ihrer selbst; daher das Zusammenzucken der so fein empfindenden Männer, wenn jemand zupackt und sagt, was ist. Die Wahrheit über den Krieg, über die Kriegsschuld, über die verruchte Kriegführung, die sinnlos, für den Pour le mérite, Zehntausende geopfert hat und sinnlos Grausamkeiten über Zivilisten hinstreute, wo es auch mit Milde abgegangen wäre – die Wahrheit über Deutschland: das ist für diese Mitläufer der frechsten Reaktion, von der sie verachtet wird, dasselbe, wie wenn ihnen jemand Asche auf die Klavierdecke streut. Das tut man nicht.

Hindenburg ist für uns weder ein Heros der antiken Legende, noch ein verehrungswürdiger Mann. Wenn schon hier Legenden gesucht werden sollen, so mag man die in den Kriegsberichten der Obersten Heeresleitung suchen. Der schweizer Präsident Motta hat sich vergriffen.

Hindenburg bleibt für die Frauen und Mütter der im Kriege Gemordeten, für die Opfer der Arbeitslosigkeit und Aussperrungen, für die Zermalmten in den Gefängnissen und Zuchthäusern der Repräsentant nur eines: Repräsentant einer Lebensanschauung und einer Geistesrichtung, die wir nicht wünschen.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 09.08.1927, Nr. 32, S. 211.