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Der Schnellmaler

Wenn in Deutschland die Kanalisationsröhren polizeilicherseits erweitert werden, wenn der Kirchenaustritt erschwert oder der Drill erleichtert wird, so schreibt Walther Rathenau dazu ein Buch. Man muß sich darein fügen – es gehört das nun einmal dazu, und wir brauchen nichts zu tun, als das Opus ungelesen still beiseite zu legen.

Wenn wir hier das Heft ›Der Kaiser‹ (erschienen bei S. Fischer) in den Kreis unsrer Betrachtungen ziehen, so geschieht das, um einmal an einem Beispiel den ganzen politischen Jammer dieses Landes aufzuzeigen.

Hätte dieses Heft Amadeus Hugendudel geschrieben – es wäre schließlich wenig einzuwenden gewesen. Der Verfasser hat Heinrich und Thomas Mann nicht ohne Nutzen gelesen, und so enthält es, aus entlehnten Stilen zusammengesetzt, abgesehen von der Charakteristik des Kaisers, unbestreitbare Wahrheiten: da ist die Feststellung von der deutschen Passivität in politicis; die Registrierung der Tatsache, daß das Volk so regiert werden wollte, wie es regiert worden ist, und dass es überhaupt nur regiert werden wollte; die Erwähnung der Würdelosigkeit der Bevölkerung – kurz: alles was man nach Heinrich Manns ›Untertan‹ über diese Dinge sagen konnte, ist gesagt.

Was aber dem Heft den Wert und die Zuverlässigkeit nimmt, ist eben die Angabe, dass Walther Rathenau sein Verfasser ist. Das geht nicht: wir weisen diese schlanke Fingerfertigkeit zurück, diese stete Alarmbereitschaft, heute so und morgen so, auf alle Fälle aber immer schreiben zu können, diese Fixundfertigkeit, dieses geölte Diktaphon und die stets vorhandene Willigkeit, alles über alles zu sagen. Und es nicht einmal gut zu sagen. So erzählt der Meister von der ›schlechthinnigen‹ Genialität des Kaisers. »Jeder Sudler«, spricht der Weise, »legt, ohne Umstände, seine Tatzen an, die deutsche Sprache zu verbessern.«

Aber außerdem ist die Charakteristik Wilhelms des Zweiten falsch. Woher ich das weiß? Ein Mann, der im Unglück so hemmungslos versagt, ein Mann, der nach der Katastrophe seine Generale auf das Schlimmste bloßstellt, und der seine Würde nicht darin sucht, sich männlich zu benehmen, sondern sie hohl, wie sie ist, attestiert zu haben wünscht, um nicht vor Gericht erscheinen zu müssen – ein solcher Mann kann nicht die Gaben gehabt haben, die Rathenau ihm nachsagt. Johannes Fischart hat an dieser Stelle einige hübsche, von Augenzeugen belegte Charakterzüge aus dem Leben des Kaisers erzählt, wie er auf der »Hohenzollern« den sich verbeugenden Generalen von der Kommandobrücke den Kaviar heruntergeworfen hat – ein solcher Mann war kein edler und kein rechtschaffener Mensch und kein ganzer Mann. Was Rathenau vom Kaiser aussagt, ist noch im Tadel byzantinisch – dem Herrn Verfasser unbewußt, aber ganz und gar byzantinisch. Noch zittern die beseligenden Stunden nach, da er ›Gelegenheit hatte‹, Seiner Majestät persönlich gegenübertreten zu dürfen. Das ist ganz made in germany: noch in den harmlosen Worten, in denen Rathenau sagt, er habe mit dem Kaiser soundsooft gesprochen, liegt eine Lakaiendemut, die fast unerklärlich ist.

Aber nicht das werfen wir dem Schreiber vor, daß er seinen Fürsten nicht verstanden und nicht gut abkonterfeit hat. Ganz etwas andres werfen wir ihm vor.

Schämt er sich nicht? Wer ist das? »Um diese Schicht« – es ist von dem preußischen Adel die Rede – »lagerte sich das plutokratische Bürgertum, Einlaß fordernd um jeden Preis, und bereit, alles zu verteidigen, für alles einzustehen. Die Theorie zu seinem Willen saugte es von den Kathedern, die von Historismus troffen, die Führungsatteste seiner Gesinnung erschmeichelte es von der Beamtenschaft.« Wer ist das?

Wer hat dauernd die spitzfindige Denktätigkeit über jede positive Reform gestellt, wer hat wolkig und verschwommen in nebligen Idealen herumgefuhrwerkt, und wer hat die Geistigen, die nun endlich zur Tat drängten, mit vornehmen Gesten bedeutet, sie hätten immer noch zu wenig nachgedacht, viel mehr spekuliert müsse werden … ? Übrigens: spekuliert wurde.

Vor dem Kriege voll träumerischer Süße, im Kriege immer hinter dem Erfolg her, immer dem recht gebend, der grade die erste Flöte spielte, kann er gewiß den Vorwurf von sich abweisen, er habe um seines Fürsten Gunst gebuhlt. Er hatte diese Tätigkeit, die für einen gebildeten, wohlhabenden Mann so legendär wie das Wort ist, nicht nötig. Aber diese unbegrenzte Hochachtung vor jedem Erfolg, ganz gleich, mit welchen Mitteln der errungen war, diese stete Bereitschaft, für alles, aber auch für alles einzustehen, und morgen nicht mehr zu wissen, was man gestern predigte, scheint mir doch zu einem gewissen Mißtrauen zu berechtigen. War es nicht Walther Rathenau, der die levée en masse noch an jenem schwarzen Oktobertag anempfahl, da sogar Ludendorff Willen und Waffen streckte? War es nicht Walther Rathenau, der in den langen Kriegsjahren die plumpe Realität des Imperialismus für den ästhetischen Salon metaphysisch umdeutete und verschönernd verfärbte? Ich glaube, er war es. Er prangt unter den schlimmsten Alldeutschen in dem Raemaekerschen Bilderbuche ›Devant l'histoire‹ (von E. Giran bei Georges Bertrand in Paris)‹ – dort ist er zitiert, weil er im ›Berliner Lokalanzeiger‹ prophezeit hatte, man werde sich für den nächsten Krieg besser zu rüsten wissen … Er war eben immer dabei.

Er war immer dabei. Sie waren alle dabei. Sie sind alle dabei. Und das eben scheint mir der Kernpunkt des Jammers hierzulande zu sein: dass kein deutscher Politiker sich auch nur denken kann, er werde einmal nicht dabei sein. Er werde still in der Ecke sitzen und auf seine Zeit warten, wenn diese hier nicht günstig für ihn ist. Dafür fehlt ihnen das Organ. Überzeugungen haben? und mit festem Sinn warten und warten, jahrelang, wie es Clemenceau getan hat, wie es alle parlamentarisch geschulten Politiker des Auslands tun? Aber nein! Aber gar nicht! Hinein ins volle Menschenleben, wo es am dicksten ist – und mitgeschwommen! »Die Fensterläden knarrten – oho – sie wußten hundert Arten – soso!« Sie wissen alle Arten: sie können oppositionell und patriotisch und annektionistisch und pazifistisch und bolschewistisch und gemäßigt und radikal und liberal und für und gegen und hinten und vorn. Es sind Tausendkünstler. Nicht das ist eine Schande, im Kriege geirrt zu haben und für den Pangermanismus auch noch eingetreten zu sein, wenn er Verbrechen beging. Nicht das. Aber es ist eine Schmach und eine Charakterlosigkeit, nun hinterher, wenn diese Gesinnung nichts mehr trägt – und sei es auch nur Ruhm –, sofort die neue Melodie mitzublasen. Und sie blasen alle, alle mit. Da hat keiner den Mut – wie ihn zum Beispiel der Graf Ernst zu Reventlow hat –, bei der alten Stange zu bleiben. Das ist Wahnsinn, schön, aber es ist anständig und ehrlich. Sie aber wissen hundert Arten. Keiner hat Furcht, man werde in ihren alten Schmökern nachschlagen: 1914 – 1915 – 1916 – 1917 – 1918 – sie verlassen sich auf das schlechte Gedächtnis ihrer Leser, und das ist gut. Diese bedeutenden Köpfe feiern nicht. Sie sind alle, alle da. Naumann und David und die Herren Dichter – das reicht über die Grenzen hin die tintenbefleckte Bruderhand, dass es eine Freude ist – und wenn morgen wieder Krieg ist: Halali! was gilt die Wette, dass sie ihren reklamierten Mann stehen!

Walther Rathenau ist einer von ihnen. Er hat mitgeholfen, die Köpfe zu benebeln, ohne Mitverantwortlichkeit, ohne den ehrlichen Willen, auch für das einzustehen, was er predigte, ohne männliches Rückgrat – ein ganzer Kaiser. Wir lehnen ihn ab. Was uns not tut, sind nicht diese prompt arbeitenden Köpfe, die überall dabei sind, nicht die ewig alte Galerie derselben Leute, die allen Ereignissen fröhlich prostend Pate standen und stehen, nicht die falschen Interessanten, die so klug, gar so klug schnacken.

Neue Anschauungen müssen von neuen Männern vorgetragen werden.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne, 29.05.1919, Nr. 23, S. 616.