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Pariser Abend

Louis Jouvet, der modernste Schauspieler in Paris, bringt in seiner »Comédie des Champs-Elysées« ein neues Stück von Bernard Zimmer: »Le Coup du 2 Décembre«. B. Zimmer gab neulich im »Atelier« von Dullin eine sehr matte Bearbeitung der »Vögel« des Aristophanes, eine satirische Möglichkeit von Weltenweite kaum benutzend … das Stück hatte aber einen kleinen Erfolg, trotz der sauertöpfischen Lustigkeit Dullins, von dem sie hier mehr Geschrei machen, als dieser Schauspieler Wolle an sich hat.

»Le Coup du 2 Décembre« – das ist jener Staatsstreich Napoléons des Dritten, den er im Jahre 1851 gegen die damalige Nationalversammlung vollführte. Dieses Datum weiß der junge Charles Lèbre ganz genau, und auf die Frage seines Vaters, des Untersuchungsrichters: »Was war am 2. Dezember?« erkundigt er sich, welches Jahr gemeint ist, fragt: »1851?« und schnattert auf, was er fürs Schulexamen lernt … Aber das meint der Herr Papa nicht, den Jouvet spielt, eine hölzerne Schießbudenfigur, mit dem singenden »Acksang«, der im Süden Frankreichs zu Hause ist. Papa meint etwas anderes.

Das Dienstmädchen bei Untersuchungsrichters hat es in sich, nämlich ein Kind, und um das handelt es sich. Sie benennt als Kindsvater den Jungen, es gibt einen furchtbaren Krach, und Karlchen muß von nun ab in der Dachkammer bei Wasser und Brot arbeiten, ganz allein. Nicht ganz allein …

Denn drei Frauen umschnurren ihn, umbuckeln ihn, umschauern ihn: drei Freundinnen des Hauses; die Nichte des Richters, die Frida heißt, aus der Schweiz stammt und fortgesetzt Freud zitiert, nebenbei so töricht, so maßlos mißverstanden, dass es nicht gerade für Herrn Zimmer spricht, der sich dabei nicht über die Freudianer, sondern über die Lehre selbst höchst albern lustig macht. »O mein Gott – wie schön!« sagt Frieda einmal deutsch im französischen Text – die Worte klingen, wie wenn jemand einen Stein in einen Sumpf plumpsen läßt … Den Jungen umtänzeln die Frau Professor sowie die Frau Major, die sich beide in der kleinen Stadt langweilen und denen der Sündenfall eines hübschen Bengels eine kleine Sensation ist … Mit der Frau Major geht der Junge beinah durch – da sagt das Dienstmädchen, die es immer noch in sich hat, er sei gar nicht der Vater gewesen, die Majorsche ist enttäuscht, was soll sie mit einem unschuldigen Gymnasiasten anfangen, sie sagt sich von ihm los, er weint, und der Papa Untersuchungsrichter steht hinter dem Stuhl und ruft: »Ich verstehe das alles nicht – ich verstehe es nicht … «

Unverständlich ist eigentlich nur, wie man dergleichen aufführen kann. Das schnurrt ab wie eine Posse; das unübersetzbare Wortspiel »Le Coup du 2 Décembre« dürfte mit dem »Ding vom 2. Dezember« nicht eben unzutreffend übersetzt sein, und wäre nicht die höchst saubere Regie Jouvets und die Leistung des Ensembles, dann bliebe nichts als eine undramatische Sache. Zimmer ist ein schwacher Dramatiker, dem lyrische Augenblicke gelingen und dicke Situationskomik; bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass er auf die drei beutegierigen Damen eifersüchtig ist, sein Junge ist der einzige, der in dem Stück gut wegkommt, und der kommt nicht gut weg. Die Satire steht auf der Höhe einer Fußbank; diese traurigen Kleinstädter dem Gelächter des Publikums auszuliefern ist eben keine Heldentat. Fräulein Bogaert ist eine Schauspielerin, die wohlschmeckend anzusehen ist, Herr Bouquet spielt herrlich alte Männer, so etwas zwischen Gülstorff und Carl Etlinger, und Jouvet ist selbst noch in diesem Stück er selber. Aber eines gibt es doch an dieser Komödie zu lernen.

Die Kleinstadtmänner sehen, wie fast auf allen französischen Bühnen, so aus wie selbst Franzosen nicht mehr aussehen, und das will etwas heißen. Sie benehmen sich, wie sich nur Schauspieler auf der Szene benehmen, es ist eine Nebenwirklichkeit, und mit dem Leben hat das kaum noch etwas zu tun. Und wenngleichen gerade die naturalistische Schauspielkunst in Deutschland auf einer viel beachtlicheren Höhe steht als in Frankreich, allwelches Land sie immerhin erfunden und dann, wie so viele andere seiner Erfindungen, links liegengelassen hat, so bleibt doch immer wieder verwunderlich, wie gering im modernen Schauspieler die Lust am Nachmachen ist, der Ur-Spieltrieb, die äffische Freude, Gesten ohne Inhalt zu kopieren, die Lust an der Echtheit des Lebens. Die stilisierte Bühnenkunst nimmt auch noch den letzten Rest davon fort, und doch glaube ich, dass hier, und nur hier, das Herz der Schauspielkunst schlägt. Werner Krauss hat das begriffen – noch in seinen Requisiten lebt diese fast teuflische Freude, dem Leben ganz nahe auf den zuckenden Leib zu rücken, es nachzumachen, es nachzuschaffen, es noch einmal zu erschaffen. Sehen die Schauspieler nicht, was um sie vor sich geht? Die Franzosen bestimmt nicht, jedenfalls gibt es kaum einen auf dem gesamten französischen Theater, der von dieser Freude des Kopierens besessen wäre, es interessiert sie gar nicht. Und bei uns –? Aber ich will den Berliner Kollegen nicht ins Handwerk pfuschen …

Ein Tragepfeiler jeden wertvollen Theaters ist der nachschaffende Humor.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 27.07.1928, Nr. 178, S. 1.