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Neue Zeit

Daß die Entwicklung zu stocken scheint, dass in allen Künsten die ältesten Mottenkisten noch einmal aufgemacht werden: das ist nicht die Müdigkeit eines verbrauchten Zeitalters. Auch nicht die Abgeschlossenheit des Landes ist schuld daran. Hinter der Rampe ist deshalb alles beim alten geblieben, weil in den Logen das Publikum gewechselt hat.

Die neuen Reichen kennen eben »Haben Sie nichts zu verzollen?« noch nicht und lassen es sich demgemäß vorspielen. Daß man kleine souperaufmunternde Ferkeleien auch so sagen kann, dass die Damen sie sich mit anhören dürfen, hat sich erst kürzlich bei denen herumgesprochen, die ihrerseits einen verlorenen Krieg gewonnen haben. Sie entsinnen sich noch aus ihren Grünkramläden, dass die Kundschaft gesagt hatte: »Heute abend gehen wir mal in eine französische Posse!« Man platzte vor Neid, damals, als Mutter noch die sauern Gurken selbst einlegte … Heute ist man soweit und läßt sich also die französischen Possen vortrudeln.

Unfähig, neue Kulturgüter zu erzeugen, halten sie sich vorläufig an die bewährten alten und kopieren sklavisch, was sie einstmals so bewundert haben. Man muß nicht vergessen: Das Leben fängt ja erst jetzt richtig für sie an. Daß die Welt inzwischen weitergegangen ist, geniert sie nicht – sie beherrschen die Szene, sie sind dran und beginnen nun, langsam und herablassend die feinere Psychologie der Jahre um 1900 einzukaufen.

Und so stockt denn alles: der eine kanns, der andre hats, und die Kulturproduzenten richten sich nach dem Abnehmer, der alles nachholt, was er vor zwanzig Jahren versäumt hat. So kommt der Genießer von heute sachte auf die französischen Provinzschlager unsrer Schultage und lacht dröhnend, wo der jäh aus der Entwicklung gerissene Logenbesucher des Kaiserreichs keine Miene verzieht.

Diese neue Zeit ist ein schlechtes Abziehbild der alten. Hans im Glück, betagt, aber mit guten Verbindungen zu den Feen, holt alles nach, was er in seiner ärmlichen Jugend entbehrt hat. Nur das Gute nicht. Und so bleibt denn der einzige Rudolf Rittner weit, weit dahinten …

Aber wir haben die tröstliche Aussicht, alle Schmarren, die um das Jahr 1910 als piekpervers und hochelegant zu gelten die Ehre hatten, noch einmal auf dem Ladentisch zu sehen. Frau Piesecke kanns und will es ganz genau wissen.

Peter Panter
Die Weltbühne, 02.02.1922, Nr. 5, S. 128.