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Der Maulesel des Papstes

In den »Lettres de mon Moulin« von Alphonse Daudet wird von einem Maultier erzählt, das einem guten Papst in Avignon gehört habe; das sei stets von einem Pagen des päpstlichen Hofes mächtig geneckt worden, gequält und geschunden; das Tier habe das nicht vergessen, der Page habe den Hof verlassen, sei nach Neapel gegangen, sei nach sieben Jahren zurückgekehrt … Das Maultier war noch immer da. Als der Page aber in den Stall kam, es zu liebkosen, um sich so beim Papst lieb Kind zu machen, da holte das Maultier aus und gab ihm einen Fußtritt, dass »man noch in Pampérigouste den Staubwirbel sah«! Und der weise Daudet fügt hinzu:

»Fußtritte von Mauleseln sind im allgemeinen nicht von so niederschmetternder Wirkung. Aber dieses Maultier war eben ein päpstliches Maultier, und dann muß man immerhin bedenken: es hatte den Fußtritt sieben Jahre aufbewahrt! Es gibt kein schöneres Beispiel geistlicher Rachsucht.«

Doch, es gibt eines.

Dieses Maultier da hat seine Rache sieben Jahre aufbewahrt – Jean-Jacques Brousson hat die seine über die dreifache Zeit hinaus konserviert. Der Papst Anatole France ist tot; noch blühten keine Blumen auf seinem Grab, da war der flinke, spitznäsige Herr schon mit seinem Büchelchen da: »Anatole France en pantoufles«. Darin zeigte der Kammerdiener seinen Herrn in jener Attitüde, die unfehlbar beweist, dass jener kein Held gewesen sein konnte: nämlich in Unterhosen. Es gab einen stürmischen Lacherfolg mit einem sehr ernsten Unterton, über den noch zu sprechen sein wird – und das ließ den Sekretär nicht ruhen. Er hat einen zweiten Streich geführt, diesmal wird France bis aufs Hemd ausgezogen, und das wollen wir uns einmal ansehen.

»Itinéraire de Paris à Buenos-Ayres« von Jean-Jacques Brousson (bei G. Crès in Paris). Vor mehr als zwei Jahrzehnten wurde Anatole France, damals schon auf der Höhe seines Ruhmes, eingeladen, in Südamerika Vorträge zu halten. Das tat er, und er nahm seinen Sekretär mit. France, der an der Seite der verheirateten Frau von Caillavet ein seltsam gebundenes Leben führte, dessen Fesseln er wie ein ausreißender Gymnasiast zuweilen abstreifte (wenig, aber oft, und dann viel) – France nahm diese Frau nicht mit. Nervenkrise und Geschrei. Frau von Caillavet gab ihm ihren Kammerdiener mit (nie hätte France einen solchen Zug in einem seiner Romane stehen lassen!); er verliebt sich unterwegs in eine Schauspielerin, die auf dem gleichen Schiff mit einer Tournee der Comédie-Française herüberfährt; der Herr Sekretär gibt, was aber nicht in dem Buche steht, regelmäßig Berichte über das Wohl- oder Übelverhalten des Meisters an die Dame in Paris; der Sekretär billigt die Liaison mit der Schauspielerin nicht – und France läßt den Mann drüben sitzen, angeblich ohne Geld, nur mit einer Rückfahrkarte und einer vagen Empfehlung an den Kapitän des nächsten Dampfers. Das alles ist nicht sehr heiter.

Sie fragen, was das mit dem Werk von Anatole France zu tun hat? Sie werden gleich hören.

Das Buch mit den intimen Schilderungen aus dem Alltagsleben von France ist die Rache eines schlecht behandelten Kammerdieners. Brousson, der in der übrigens sehr empfehlenswerten Literaturzeitschrift Vient de paraître sehr sorgfältig auseinandersetzt, was ihn zu dieser Haltung gezwungen habe, spricht natürlich von enttäuschter Liebe. Die ist glaubhaft. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der junge Herr aus Nimes, voller humanistischer Kenntnisse, voller Bildung und voller Verehrung für die Antike und einen ihrer letzten Vertreter auf Erden, den Absturz aus den Höhen der Glorifikation in die Niederungen der männlichen und anderen Schwächen des Meisters nicht vertragen hat. Aber das kommt davon, wenn man seine Helden aufpustet! Brousson hat richtig erkannt, dass sein Erlebnis das einer ganzen jungen Generation gewesen ist: sie alle hatten falsche Vorstellungen, das Idol purzelte, und nun schimpfen sie wie die Frösche in einem abendlichen Teich. Aber sie sollten nicht auf France quaken …

Kleine Zwischenbemerkung: wenn jeder gleich schelten wollte, der in seiner Liebe enttäuscht ist … Zugegeben: keine Feindschaft ist so glühend, kein Haß so brennend wie der, der aus verschmähter Liebe kommt. Wenn man zum Beispiel für Anatole France »La France« setzte und für die werbenden und begeisterten jungen Leute alle die Deutschen, die seit Hunderten von Jahren um Frankreich geworben haben, mit falschen Vorstellungen im Kopf, mit berichtigten Vorstellungen, schenkend und nehmend, dankend und liebend, und immer, immer kühl im Vorhof abgefertigt … aber das ist ein weites Feld.

Was Brousson angeht, so stellt er sich in dem Büchelchen als weißes Unschuldslamm dar: ein fleißiger, diskreter, braver, kleiner Sekretär, der hier und da durchfließen läßt, wieviel er in Wahrheit in dem Opus Francens selber geschrieben habe – darin der Frau von Caillavet nicht unähnlich, die sich nicht damit begnügt, ihre zweifellos vorhandenen Verdienste um die Karriere ihres großen Schützlings zu rühmen, sondern die auch, in der einzig gut geschilderten Szene des Buches prahlt: »Ich kann ihn nicht verlassen, er verdankt mir alles. Ich habe ihn erst zu etwas gemacht. Ich habe ihn in die Akademie gebracht. Ich bitte Sie, wer hat ihn denn vorher gekannt, bevor ich ihm beigebracht habe, wie man seinen Schlips richtig bindet, wie man den Damen die Hand küßt, wie man bei Tisch anständig Obst schält? Was war er denn? Ein kleiner Archivbeamter! … Hat er Ihnen nie gesagt, dass ich ihm bei der Arbeit geholfen habe? Ganze Seiten von Anatole France habe ich geschrieben, und ich bin heute nicht einmal stolz darauf! Ungefähr der dritte Teil seines Werkes stammt von mir.« Soweit die Herkunft Crainquebilles und der »Insel der Pinguine« …

Dieser Firma also diente der arme Brousson – um welchen Lohn? »Da war also die Geldfrage. Sie ist widerwärtig, diese Frage – besonders für die, die kein Geld haben – und ich möchte am liebsten gar nicht davon sprechen. Als mich der Meister für Hilfsarbeiten an der ›Pucelle‹ engagierte, versprach er mir hundert Francs monatlich.« Das ist typisch französisch: sowohl die Winzigkeit des Honorars als auch die Schwammigkeit des Geldbegriffes in der Kunst: wie hier nie sauber etwas zu Ende gedacht ist, wie es als unfein angesehen wird, geistige Arbeit auch einmal als Ware zu betrachten, die sie ja unter anderem auch darstellt – das ist nicht so sehr der Fehler eines einzelnen. Das ist das Land.

Das Buch, das die Vorbereitungen zur Südamerika-Fahrt schildert, die Überfahrt, die Erlebnisse während der Vorträge und den traurigen Schluß – dieses Buch ist nicht gut geschrieben. Brousson ist ein mittelbegabter Journalist, kaum mehr. Es finden sich ja noch bei dem letzten französischen Schriftsteller immer reizende Wendungen, kleine Tagmusiken des Stils, zum Beispiel so etwas: Die Schauspielerin weint. »Und sie versieht ihr Batisttaschentuch mit kleinen karmesinroten Os … « Auch hat dieser Brousson das bös zwinkernde Auge, das flinke Auge, das blitzschnell durchleuchtende Auge – am ehesten noch mit Meier-Graefe zu vergleichen. Auf dem Schiff wird zu Ehren Anatole Frances und zu einem wohltätigen Zweck ein Exemplar der »Thaïs« mit der Widmung des Autors versteigert. Das kostbare Exemplar »fällt an einen hochmögenden skandinavischen Industriellen, der die Nachricht von diesem unverhofften Gewinn beim Kartenspiel entgegennimmt; er läßt keinen Atout aus. Als man ihm den vielbegehrten Band bringt, legt er ihn sich unter seinen Sitz und spielt Pique-Dame aus.« Und so noch oft. Wie aber erscheint France selber –?

Als ein lächelnder, skeptischer, unausgeglichener, halbphilosophischer älterer Mann, an dem den Heiligenschein nur vermissen kann, wer ihn fälschlicherweise erwartet hat. Der Zynismus, mit dem er oft über geschlechtliche Fragen spricht … aber es ist doch nur jene unmännliche und feige Indiskretion Broussons, die das zutage gefördert hat, und es gibt wohl keinen wertvollen Kerl von Kraft und Mark, der nicht schon dergleichen verspürt und gesagt hätte. Unter Männern sind solche Worte wohl erlaubt – aber nichts erscheint mir verächtlicher als solche Sätze, wie es etwa Maximilian Harden zu tun beliebte, später weiterzugeben. Einem Freund die Treue zu brechen: das ist wohl das allerübelste.

Daß France das Wohlleben liebte; dass er nicht einem »Ideal« entsprochen hat – das mag hingehen. Ich habe nur einen einzigen Zug finden können, der mir abstoßend erscheint: das ist seine Weigerung, in einem Prozeß gegen Antimilitaristen aufzutreten. Die Verteidiger sagten mit Recht: »Wenn Sie, Herr France, vor Gericht aussagen, dass die Angeklagten nur einmal das geschrieben haben, was sich hundertmal in Ihren Werken findet – wenn Sie vor Gericht sagen: Bitte, verfolgen Sie mich auch! – so werden wir sie freibekommen.« France blieb schön zu Hause, und das geht nicht. Keine noch so intelligente Skepsis hilft darüber hinweg.

Aber sonst haben wir da einen amüsanten, amüsierten und höchst geistreichen alten Herrn – da ist eine Szene, in der ihm auf dem Kai von Rio de Janeiro die brasilianischen Honoratioren vorgestellt werden: das ist bestes Kasperletheater. Für jeden hat er das »Wort«: »Herr Admiral, Sie sind ein Held!« – »Ich bin glücklich, endlich die Hand des brasilianischen Balzac drücken zu können!« (»Der Kerl sieht aus wie eine Meerkatze, die von einem Kokosbaum heruntergefallen ist!«) – »Dürfen wir Ihnen unseren Philosophen, den Professor Soundso vorstellen … ?« – »Wir sind hierhergekommen, um uns von Ihnen beibringen zu lassen, was das ist: die Weisheit« – und so stundenlang. Und wie er in Buenos Aires in der Präsidentenloge des Theaters sitzt, und am nächsten Morgen belehren ihn die Zeitungen, dass man zum Smoking eine schwarze Krawatte zu tragen habe …

An entzückenden »mots« ist kein Mangel; France war ein guter und ausdauernder Sprecher (Brousson beklagt sich darüber). »L'homme, hélas, c'est la caricature de l'enfant.« Und, besonders bemerkenswert: »Feigenblätter? Die sollte man nicht auf den Leib der Venus und der Amouretten kleben – Feigenblätter gehören vor Schlachtenbilder.« Und jene reizende Geschichte, wie ihn seine Schauspielerin um Auskunft bittet, wieso man denn auf der Überfahrt einen Tag gewinne oder verlöre, sie verstehe das nicht recht … Darauf nimmt der Meister eine Orange und eine Zitrone und erklärt ihr an diesen Früchten die Umdrehung der Erde um die Sonne. Sie glaubt es nicht. Das wären alles so Sachen! »Aber die Wissenschaft – die Astronomen!« Doch da legt sie los: »Die Astronomen! Die Astronomen! Aber das sind Leute wie wir auch! Ich kannte einen, der war am pariser Observatorium. Il avait pour maîtresse une petite figurante du Gymnase! Ce qu'il était cocu!« – Und darauf der ganze France in einem Satz: »Das ist allerdings ein entscheidender Einwand gegen die Wissenschaft.«

France ist in das Leben dieses Jean-Jacques Brousson getreten, wie man auf der Straße in ein kleines Häufchen tritt, und das hat sich bitter gerächt. Aber es sind nicht nur die peinlichen Indiskretionen allein, die dem Buch zu seinem Erfolg verholfen haben. Von den dreihundert Kriterien, die »L'Itinéraire« in Frankreich bekommen hat, waren, nach Brousson, zweihundertundsechzig sehr günstig, zwanzig sauersüß, und der Rest … Brousson: »Le reste ne vaut pas l'honneur d'être nommé.« So kann man auch. Die Enthüllungen, die kaum noch welche waren, sind es nicht. Da ist noch etwas anderes.

Daß von Paul Morand bis zu Léon Daudet die Zustimmungen nur so prasseln, dass tatsächlich meist die alten Leute, wie Brousson feixend anmerkt, für France eintreten, liegt an einer Wendung im französischen Geistesleben, die weit über die Bedeutung dieses Buches hinausgeht. Die lächelnde Skepsis des Alten, seine zu nichts verpflichtende Moralität taugen nicht für die jüngere französische Generation, weil ihnen dergleichen keine Lösung erscheint. Er habe mehr auf die Grammatik als auf die Ethik und den politischen Willen gesehen. Courteline, sagt Brousson, stehe turmhoch über France, was nicht richtig ist – wenn auch die große dichterische Kraft Courtelines in Frankreich oft verkannt, in Deutschland niemals richtig erkannt worden ist. Und wenn auch Paul Souday vom Temps das Buch Broussons tadelt und der unsägliche Clément Vautel – vom Journal es lobt: hier geht etwas vor, das nichts mit einem Literaturkrach gemein hat.

Der Ruf »Man muß sich entscheiden« hallt durch alle Länder, erhoben von Berufenen und Unberufenen, aber er ist das Ende der liberalen Skepsis. Die jungen Franzosen scheinen mir, wie bei uns, in zwei Gruppen zu zerfallen: in solche, die an geistigen Kämpfen überhaupt uninteressiert sind, und in solche, die ein Interesse an ihnen nehmen. Die zweite Gruppe steht, rechts und links, auf ziemlich extremen Flügeln. (Es wird abzuwarten sein, wie die Herren mit vierzig Jahren aussehen werden.) Die Abkehr von Anatole France in Frankreich hat etwas Symptomatisches: die Jugend, die den Krieg erlebt und durchlebt hat, will mehr, begnügt sich nicht mit jener abgeklärten Weisheit eines gebildeten Mannes – sie stürzt die Säulen um und wirft sich, vor dem Bau neuer, gegenseitig die Trümmer an den Kopf. Die Kirche, deren Einfluß in Frankreich mehr geistiger und weniger politischer Natur ist als in Deutschland, ist erstarkt – man trägt zur Zeit wenig Skeptizismus … Die France-Dämmerung, die über das Land zieht, zeigt, was die Stunde geschlagen hat. Und dennoch –

Ich kann den alten, noch immer hochgewachsenen Mann nicht vergessen, der kurz vor seinem Tode im »Trocadéro« bei einer Feier, ihm zu Ehren, in seiner Loge aufstand und mit seiner schon verrosteten Stimme ein paar Worte zu den Tausenden sprach. Was sagte er –? Er sprach für die Freilassung der politischen kommunistischen Gefangenen.

Trotz allem: dieser Papst wird länger leben als sein rachsüchtiges Maultier, das heute im warmen Stalle steht, leeres Stroh widerkäut, und das seine Rache aufbewahrt hat, zwanzig Jahre lang.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 26.04.1928.