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Briefe an einen Kinoschauspieler

»Heute bin ich wieder furchtbar berühmt!«

Vor mir liegt ein Päckchen Briefe, blauer, weißer, gelb getönter und tangofarbener; hübsche, kleine Briefe. Sie sind alle an einen Mann gerichtet, an einen sehr bekannten Kinoschauspieler, dessen Namen hier nicht genannt sein soll. Ich blättere und raschele in den Papieren, und eine ganze kleine Welt tut sich auf.

Wir glauben, die Menschen zu kennen, wenn wir ihre Zeitungen lesen und in die Theater gehen und die Bücher lesen, die gerade Erfolg haben. Falsch. Heute, 1919, müssen wir sie im Kino aufsuchen: da sind sie ganz, da sind sie Mensch, da darf mans sein – da ist Leben und Liebe, Leidenschaft und leichter Sinn – da sind sie ganz. Denn auf der mittleren Linie zwischen Kunst und Moritatenleinwand hat sich eine neue Gattung Kunscht gebildet – eine, die die Gemüter völlig im Bann hält, bezaubert, fesselt und einlullt. –

Wenn ein großes Meisterwerk Erfolg hat, so kann man in neunzig Fällen von hundert darauf schwören, dass sich das Publikum aus dem Ding etwas zurechtgemacht hat, das nur noch gerade die äußeren Umrisse mit dem ursprünglichen gemein hat. Es gibt einen Publikumshamlet, einen Publikumsbeethoven, einen Publikumsrembrandt –, und kommt der Nachtreter, der das große Vorbild kitschig kopiert, so hat er denselben Erfolg, weil sie den Unterschied nicht merken.

Beim Kino bedarfs des Umwegs nicht. Hier sind ihre Lüste und ihre Passionen, ihre Probleme und ihre Seligkeiten. Hier ist alles. Hier ist ihre Welt.

Und weil die Welt Götter braucht, so schufen sie sich welche und haben welche und verehren sie mit einer Leidenschaft, die mit der alten Liebe zum Schauspieler wenig zu tun hat. Gewiß, als wir klein gewesen sind, standen auch wir einmal am ›Bühnentürl‹ und warteten in der bittersten Winterkälte, bis, blond und vermummt, Lucie Höflich auftauchte oder Rosa Bertens oder eine andere Königin unseres Herzens, und wir nahmen bescheiden den Hut ab und brachten wirklich der Kunst unser kleines Opfer dar, und nicht nur der Frau. Dieses hier aber ist ganz etwas anderes.

Durchdrungen von der naiven Annahme, der Kinoschauspieler sei im Leben gerade so wie in den aufregenden Rollen, legen die jungen Damen und Herren ihren Idolen Eigenschaften bei, die denen schon manche Träne der Heiterkeit entlockt haben (wenn sie klug sind – das gibts). Und sehe ich von den üblichen Bettelbriefen ab, so bauscht sich der Vorhang vor einer Komödie von Eitelkeit, Sinnlichkeit, Neugierde, Dummheit und falsch angebrachtem Charme, dass es einen Hund, einen Panter jammern kann. Blättern wir.

»Da ich die Einsamkeit nicht mehr ertragen kann, wage ich es, an Sie zu schreiben, denn Sie müssen verstehen können. Ich sah Sie als … in … Jene Stunden im Kino – wie banal das klingt – zähle ich zu den wertvollsten meines Lebens. Ich sah nie einen Menschen spielen mit dieser beinahe krampfhaften Innerlichkeit, die Ihnen eigen ist, und die alle anderen Schauspieler in den Schatten stellte. Es war, als wollten Sie alle anderen mit Ihrer starken Innerlichkeit anfeuern; ich zitterte vor Erregung. Ich will Ihnen keine Komplimente sagen, denn es kommt mir nicht zu, aber darf man Empfindungen, die aus tiefster Seele kommen, unterdrücken? Nein, nicht wahr? Sie sind so gut, dass ich es einmal wage. Ihnen mein Herz auszuschütten, werden Sie mich verstehen, oder wenigstens versuchen, mich zu verstehen?«

Und nun nach der Melodie: Hedda aus der Prenzlauer Allee:

»Ich bin so jung und doch so müde schon; denn die Menschen traten meine schönheitsdurstige Seele in den Schmutz des Alltags. Ich habe keinen Menschen, der zu mir hält, denn für so exzentrische Geschöpfe, wie ich eines bin, hat die Masse ja kein Verständnis. Wie ein Geschenk habe ich es daher empfunden als ich Sie spielen sah, und seitdem ist ein tiefinnerliches, unaufhaltsames Weinen in mir – – Ich sehe immer noch Ihre wundersam weiße Hand, die geschaffen ist zum Guttun, und mit Entzücken träume ich von Ihren schwarzen Augenlidern, die sich beinahe wie aus Angst so seltsam schmerzhaft auf die Wangen senkten. Ich bete Sie an, mir zum Leide und der Welt zum Trotz – – Ganz allein für mich sollten Sie einmal spielen – – ganz allein für mich – – Ich kann nicht anders: antworten Sie mir auf meinem Brief, es hängt alles davon ab. – Ich küsse Ihre Hände!«

Eine fragt geradezu, ob der Künstler und der Mann des Lebens – nicht: der Lebemann – sich decken:

»Habe bis jetzt noch keinen Film versäumt, in welchem Sie spielten. Spielen Sie einen großen Freund oder Kameraden, bin ich glücklich, ist aber das Gegenteil der Fall, stimmt es mich tieftraurig. Habe den Wunsch zu wissen, ob meine Annahme bestätigt ist, ob Sie in Ihrem sonstigen Leben so sind wie auf der Bühne, Oder sollte es nur Kunst sein?«

Nur – du himmlische Verehrerin!

Aber man kann auch böse werden, und wenn der Gefeierte nicht gleich antwortet, bekommt er folgenden Brief:

»Da ich bis heute noch keine Antwort auf meinen dritten Brief vom 5. d. M. erhielt und auch nicht mehr damit rechne, bitte ich Sie nur noch, mir mein Bild, das für Sie schwerlich noch Interesse haben kann, unter Benutzung des nochmals angefügten Freibriefumschlags zu retournieren. Eigentlich ist es wohl unter ›gewöhnlichen Sterblichen‹ üblich, eine höfliche Anfrage zu beantworten, je wie man es für möglich hält, entgegenkommend oder ablehnend. Aber natürlich gibt es auch eine gewisse Art von Menschen, die hoch über der erwähnten Gattung mit ihren Lebensregeln steht. Wie zum Beispiel käme ein ›umschwärmter‹ Schauspieler wohl dazu, auf die Briefe eines ›kleinen unbedeutenden Mädels‹ zu antworten, geschweige denn näher darauf einzugehen!? Da genügt doch schon die Einsendung eines Autogramms. Nicht wahr, das ist sicher auch Ihre Ansicht, deren Richtigkeit ich Ihnen auch durchaus nicht absprechen möchte?!? In diesem Sinne bin ich mit ganz besonderer Hochachtung … «

Mit ganz besonderer Hochachtung – das ist die wahre Liebe nicht. Da lob ich mir diese junge Dame, die durchaus weiß, was und wen sie will:

»Berlin, den 15. August 1919. (Das Ganze auf der Rückseite einer Porträtkarte.) Du, ich hab Dich so furchtbar lieb! Möchtest Du mir nicht ein einziges Mal ein Küßchen geben? Mein Muttchen ist gestorben – – und ich bin so allein! Nicht bös sein – – daß ich Du sage – – aber ›Sie‹ ist so fremd! – – – Wenn Du meinen Wunsch erfüllen willst so sei so gut und rufe mich an!«

Die Entschuldigung mit dem Mütterchen ist eben so übel nicht. Manche Mädchen wissen aber doch, was sich gehört; so schreibt eine: »In vielen Fällen habe ich Sie bewundert, in denen Sie Idealrollen hatten. Aber in … war Ihre Rolle abschreckend für ein junges Mädchen.«

Und eine andere legitimierte sich: »Bitte mir ein Bild außer der Bühne mit einigen Worten der Erinnerung zu verehren. Es kommt bestimmt nicht in unwürdige Hände. Sie sollen wissen, wer ich bin. (›Meinen Namen sollt ihr nie erfahren: Ich bin der Kaiser Franz Joseph!‹) Bin Generalstochter (adlig), genügt das?« – Ach ja, es genügt, und um wieviel bürgerlicher und kaufmännischer denkt da ein junger Herr, der eine Menge Karten zur Bemalung mit Autogrammen schickt und dazu schreibt: »Für Ihre nun sehr vielen Bemühungen erlaube ich mir, Ihnen freundlichst zwei Mark zu übersenden.« Überschrift: Des Kinoschauspielers erstes ehrlich verdientes Geld …

Was überhaupt auffällt, ist die entzückende Mischung von Liebe und Geschäftsstil. Roda Roda erzählte einmal eine Geschichte von einem Buchhalter, der bei den Worten: »Liebe Hulda, ich liebe dich leidenschaftlich!« – das letzte Wort zweimal – dick und dünn – mit dem Lineal unterstreicht … So weit kann einen die Leidenschaft manchmal treiben. »Ich werde stets bemüht sein, Ihre werten Briefe prompt und ausführlich zu beantworten.« Eigentlich müßte es heißen: ›und werde ich stets bemüht sein‹ –, aber es ist auch so schon ganz hübsch.

Eine will zum Film empfohlen werden; sie kann alles: »Tanzen (sämtliche moderne wie Bühnentänze), Reiten, Schwimmen, Rudern, Klettern, Schlittschuhe laufen, Klavierspielen und Singen. Genügt doch, gelt? Es wurde mir auch schon von vielen Seiten versichert, dass ich talentiert wäre. Nur die Beziehungen fehlen.« Aber die werden schon kommen …

Und auch das Ausland ist in dem bunten Reigen vertreten:

»Sehr geehrter Herr! 10. September habe ich Sie in das Schauspiel … als … gesehen und habe richtige Freude erlebt. Am Sonntag nachmittags habe ich Sie in Elektrische Bahn Stadt Ring 1 sofort erkannt.« (Dabei ist der Mann so fein, dass er niemals die Elektrische Bahn besteigt.) »Sie haben mich auch bemerkt … aber das war bloß ein flüchtiger Moment, eine lichthelle Sekunde, weil ich früher als Sie weggestiegen bin … Ihre Kunst und Ihr Aussehen sind anders, als man jeden Tag trifft, und weil ich selbst eine Künstlerin bin, so bemerke ich alles, was nicht originär ist. Von meinem Schreiben werden Sie erraten, dass ich Ausländerin bin, und bitte, meine Fehler nicht zu streng zu urteilen. Wenn Sie Lust finden werden, da antworten Sie bitte an meinen Brief, und vielleicht können wir Mahl treffen. Bedauern werden Sie hoffentlich nicht, und werde mich herzlich freuen, in Ihre Gesellschaft zu sein. Hochachtungsvoll … «

Und so rummelt das durcheinander, Verse und Schmalz und bonbonblaue Briefe und marzipanrosane und junge Damen und alte. Der schönste aber von allen ist dieser hier, der eine so prächtige Idylle darbietet, wie sie Meister Spitzweg nicht besser hätte malen können oder sein Enkel Paul Scheurich. Beim Lampenschein … nein, zu diesem Brief muß das ›Elterngrab‹ gespielt werden – dann ists richtig. Hier ist er.

»Geehrter Herr … Verzeihen Sie, dass Ihnen eine unbekannte Frau mit diesen Zeilen belästigt, doch ist es eine Mutter, die ihren einzigen, vergötterten, guten Jungen verlor und nichts weiter besitzt, denn mein Mann ist acht Jahre tot.

Ich sah Sie im Frühjahr in … und erschrak, wie sehr Sie meinem Sohn ähnlich sind, nicht in den Zügen, sondern wie er sich gab. Ich sah zufällig in eine Kinovorstellung, ich war nie eine Freundin für diese Art Sachen, doch nun gehe ich zu diesen Vorstellungen, so oft ich Ihren Namen lese, blödsinnig ist so etwas. Und nun werden Sie vielleicht sagen, die Frau hat wohl keine Arbeit? Ich habe mehr wie zu viel zu tun und mein anständiges Auskommen. Nein, die Sorge um etwas Liebes fehlt mir. Hergott, da schreibe ich ja gerade, als ob ich abends meinem Paulchen das Herz ausschütte. Ich fahre auf ein paar Tage nach L. zu meinen Verwandten, denn ich bin dorther, und wenn ich wiederkomme, werde ich Ihnen eine uralte Geschichte schreiben oder erzählen, wenn Sie es für gut befinden, ich würde, wenn Sie zu mir kommen, Sie gut empfangen, eine anständige Tasse Kaffee und selbsgebackenen Kuchen. Vielleicht kommen Sie, ich würde mich unendlich freuen, Sie brauchen sich meiner nicht zu schämen, ich bin eine Frau von untadelichem Ruf. Mein Großmütterchen, die tief im Spreewald wohnt, hat mir mehr wie einmal diese furchtbare Geschichte aus einem schönen, alten Buch vorgelesen, denn es war eine Schrift, die ich nicht verstand, mit wunderbaren Bildern dazu. Die Geschichte spielt in der Nähe meiner Großeltern, ein gewaltiger Wendenfürst hat ein edles Grafenehepaar in den Tod gehetzt, sie ist schön, diese Geschichte, es ist etwas andres mal. Die Rache einer edlen Frau nennen Sie dann das Stück. Mein geliebter Spreewald ist reich an Geschichten und Sagen. Ihnen würde ich sie erzählen, wiewohl ich sonst wie meine Kunden sagen, wenn ich mal bei ihnen bin sagen, ich sitze wie ein Ölgötze. Unendliche Grüße von Ihrer mütterlichen Freundin..«

Und wenn er nun hingegangen wäre –? An diesem Abend lasen sie nicht weiter …

Ist das nicht rührend? Da schmilzt des harten Spötters Herz, er beugt demutsvoll sein Haupt, hebt betend die Arme empor und spricht zu seinem Kinomann: »Wahrlich, wahrlich, du bist berühmt! Wir aber modern im Schatten dahin! Glanz und Sonne auf deinen lackierten Scheitel!«

Peter Panter
Berliner Volkszeitung, 25.12.1919.