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Ilka Grüning

»Nein, und was Sie für ein schönes, neues Kleid anhaben, Frau Hummelpummel! Und wie es Ihnen aber auch steht, so helegant, so direkt vornehm! Nur natürlich, es isn bißchen teuer, und wenn man so viel Kinder hat wie Sie – ja –!« Und watschelt, befriedigt, diese kleine Bosheit angebracht zu haben, zu einem ungeheuern Makartstrauß, den sie liebevoll abstaubt …

Wenn es eine Seelenwanderung gibt, so hat diese Frau in ihrer vorigen Existenz jahrelang Zimmer vermietet. Welch ein Horizont! Welch eine Atmosphäre: ein wenig muffig, ein wenig schlecht gelüftet, aber doch bürgerlich, im Aspekt der berühmten ›bessern Tage‹ immer auf tenue bedacht und doch ein ganz, ganz kleines bißchen Kuppelmama. Die blanken Jettaugen kugeln aufmerksam und flink im Kreise herum und sehen alles, was auf derselben Etage liegt und sogar noch eine darunter: das neue Kleid der Frau Portier, die Möglichkeit, dass der Zimmerherr mit der Schneidermamsell von nebenan ein kleines Verhältnis anfangen könnte, den Kehricht in Nachbars Garten und die Splitter in aller andern Augen. Und das muß man sagen: ordentlich ist sie. Und schön bedachtsam und ein wenig niederträchtig, denn man will doch im Leben weiterkommen, nicht wahr?

Die Witwe Truelsen, bei der Paul Alfred Abel von ›Zwei mal Zwei ist Fünf‹ zur Miete wohnte, war ein solch kleines Meisterstück, wie diese seltene Frau uns viele geschenkt hat. Wie sie da herumschlurchte, packschierlich gekleidet, einen Schmelzskalp auf dem Kopf und bestimmt am Hals eine Brosche mit dem bunt kolorierten Bild ihres Seligen, eine Henne ohne Küchlein, ohne Eiernest, aber doch eine Henne, eine ewig besorgte, gluckernde, gackernde Henne; wie sie ganz, ganz fein und in der vierten Hinterhand andeutete, dass man doch niemals wissen könne, ob – nun, wer spricht gleich von einer Heirat mit dem Herrn Abel, aber ob man nicht doch – wie? Und wie sie, ganz Bürgerkönigin, die Dame der Straße, ›so eine mit Haare‹ verachtete, denn es war ja nicht legitim, und wie sich Nippes, Staub, Zichorienkaffee und ein letzter Rest Sinnlichkeit in ihr balgten! Es gibt da eine Stelle, wo sie Abel, der Lumich, fragt: »Glauben Sie an Mohammed, Frau Truelsen?« Und sie, prustend und kreischend: »Nein, aber Herr Abel –!« Darin lag: ich verstehe es zwar nicht ganz genau, aber es ist was mit … huch! und: Sie sind ein Schlimmer! und: Aber wir zwei beide Erwachsenen dürfen uns schon eine kleine Cochonnerie erlauben. Und nichts davon stand in der Rolle.

Das ist tausendmal belacht worden, in diesem Stück von Wied und in hundert andern. Der Provinzkritiker telegrafierte seinem Blatt: Komische Alte. Aber sie war viel mehr. Sie ist viel mehr.


Was ist das: eine alte Dame? Eine alte Dame ist das angewandte Fazit einer Erinnerung. Die neue Zeit ist da und hat Anschauungen und Grundsätze gewechselt, Tanzarten und Anstandssitten, aber weil eine Frau der Natur näher steht als ein Mann, erkennt sie lächelnd: »Es ist alles noch wie früher, die Hüte sind jetzt ein wenig kleiner, aber das macht nichts, wenn sie nur gefallen.« Und das unterscheidet sie von einem Greis, dass sie niemals nur zusehend meditiert, sondern immer noch, in der letzten Ecke ihres Unbewußtseins, mitmacht, mitmachen möchte, teilnehmen … . und sei es auch nur in leichten, leisen Gedanken. Es steht in einer alten Geschichte, wie jene Junge aufgeregt und weinend ins Zimmer weht, der grauhaarigen Dame zu Füßen: »Wann, sagen Sie mir, wird mich endlich Amor in Frieden lassen!« Und die alte Dame lächelt über den gebeugten Scheitel hinweg, lächelt ganz leise und sagt: »Kindchen, da müssen Sie eine Ältere fragen –.« Der Funke erlischt nicht; und sei sie noch so weise und abgeklärt: ein Quentchen bleibt. Sie begütigt und beruhigt und vermittelt; aber bei all ihrer Objektivität ist immer noch etwas dahinter.

Es ist immer noch etwas dahinter. Das ist es ja, was so wenige unsrer Schauspieler können (und daran wohl zu allererst erkennt man die Großen): nicht nur eine Figur geben, wie sie ist, sondern eine ganze Figur, wie sie geworden ist, ihren Lebensaspekt mit der langen, langen Zeit des Wachstums dahinter. Wer kann das? Sie sind an den Fingern aufzuzählen, und eine davon ist Ilka Grüning.

Sie ist die feine alte Dame – aber so gar nicht diese gluckenhafte Mama des höhern Staatsbeamten, die, ängstlich und beschränkt, päpstlicher ist als ihr Sohn, der Papst – sie ist eine feine alte Dame, die viel gelebt und gesehen hat, die geliebt hat, und die nicht vergessen hat. Sie ist weise, soweit eine Frau weise sein kann. Sie hat sie kommen und gehen sehen, sie hat so viele Schwüre gehört und heiße Worte, und es ist alles verweht. Nein! es ist nicht alles verweht. Die Luft ist geblieben, die weiche, zärtliche Luft, die einem den Kopf benimmt, und es bleibt das tiefe, lächelnde Bewußtsein: Ich weiß zwar, dass es alles nichts war – aber – dennoch –.

Ich möchte sie gern einmal als alte Ninon oder als greisenhafte Camargo sehen; was sie da wohl sagen würde! Das hat sie noch nie gespielt.

Sie hat so viel gespielt: das ein wenig krächzende, gebrochene Organ konnte Milde ausdrücken und Schmerz und Mutterliebe, alles verzeihende und verschönernde, beschönigende Mutterliebe. Und sie starb nicht als Peer Gyntens Mutter: sie erlosch.


Märchen kann sie den Kindern erzählen, dass es einem warm über den Buckel läuft, so, wie die Märchentante aus dem Bilderbuch, mit emporgehobenem Zeigefinger und leise singendem Tonfall: und alle Figuren und Dinge der Welt hingen an diesem Finger.

Und das ist das Letzte aller Schauspielkunst, ist Ingenium. Ich habe ihr einmal in die Augen gesehen: sie sahen gütig und doch durchdringend in die bunte Welt, Und weil sie von unsern Besten ist, laß mich ihr – heute noch – eine Blume geben, die der jugendliche Verliebte sonst wohl seiner Siebzehnjährigen scheu an die Brust heftet: eine dunkle rote Rose.

Kurt Tucholsky
Die Weltbühne, 07.08.1919, Nr. 33, S. 170.