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If …

Es gibt ein englisches Theaterstück, darin wird gezeigt, wie ein junger Mensch einen Untergrundbahnzug erreichen will, er kommt zu spät, und an der Sperre lassen sie ihn nicht durch … der Zug fährt ihm grade vor der Nase weg. Zweite Szene: das noch einmal – aber nun stößt er den Mann an der Sperre beiseite, fliegt vor, taumelt noch grade in den abfahrenden Zug. Und darin sitzt ein Mädchen, mit dem er ins Gespräch kommt – in dem Zug sitzt ein Schicksal: sein Schicksal, das er erlebt hätte, wenn er damals den Zug erreicht hätte …

In Paris habe ich neulich eine Wohnung gesehen – das war meine Wohnung. (Du hast keinen Sperrdruck, S. J.? Sperr: ›meine‹ – es war meine, meine, meine Wohnung.) Einen Nachmittag lang habe ich geglaubt, ich könnte sie vielleicht haben.

Sie lag im fünften Stock, oder war es der sechste? Jedenfalls schob sich der Fahrstuhl nicht weiter hinauf, die Treppen hörten scheinbar auf – und dann kam eine kleine Privattreppe, und da hinauf gings. Oben war eine Tür, ein Korridorchen … Und dann das Arbeitszimmer aller Arbeitszimmer: ein riesiges, hohes Atelier; an der Breitwand führte noch eine kleine gewundene Treppe hinauf, da standen die Borde einer Bibliothek … Und von da in den Nebenraum, man sah durch die breiten Glasfenster über die vielen Giebel und die grauen Häuser. Totenstill. Und von da in ein Zimmerchen und noch eins und noch eins … Das dritte war mit einer Doppeltür versehen, die war mit hellblauem verschossenem Tuch gepolstert, »und die Schreie der Lust erstickten in dem Schlafgemach des teuflischen Verführers«. Alles in der Miete miteinbegriffen. Und ein Badezimmer war da – nie hätte man unter zwei Stunden darin verbracht; man hätte Gäste dazu einladen müssen. Davor lag eine Sonnenterrasse. So eine Wohnung war das.

Wenn Paris zu laut, zu bunt, zu lustig ist, dann fahre ich da hinauf – und es hat mich verschluckt. Ich gehe langsam die kleinen Stufen der Privattreppe nach oben; während der Fahrstuhl erdwärts surrt, schließe ich vorschmeckend die Tür. Da wird der Hut hingehängt, da der Mantel, die Tür schnappt zu – wie der Griff vertraut in den Fingern liegt – da ist das Atelier. Da die Post, oben brennt matt eine Lampe – nun der Tisch in warmer Helle. Sie liegt auf dem kleinen Diwan und liest furchtbar eifrig. »Was liest du da?« sage ich. »Paul Valéry«, sagt sie, »sag mal: was will der Mann eigentlich?« Ich lehne indiskrete Fragen ab – ich bin ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn, und das ist feinste Literatur, viel zu teuer für mich. Sie steht auf und verjagt die graue Seidenkatze, die buckelt. »Ich für mein Teil«, sagt sie, »gehe ins Bett. Lisa ist schon da.« Lisa heißt gar nicht Lisa. Übrigens sind wir drei. Ich lasse das Duo schlummern und krame ein bißchen am Tisch.

Vormittags ist es manchmal ganz hellgrau, dieses lichte Grau der pariser Vormittage. Es ist so still, dass man die Kanarienvögel singen hört. Meiner singt nicht, die faule, gelbe Kugel. Er sitzt da und blinzelt heimtückisch. Es ist so still … Auf dem Tisch liegen die Notizen von gestern abend – man muß seine Gefühle aufbewahren können – los gehts. Es hat mich, der Kopf läuft langsam violett an, die Schreibmaschine klingelt lieblich.

Nun lebe ich schon seit Jahren in dieser Wohnung – ich kann gar nicht denken, dass ich jemals anderswo gelebt hätte – hier ist Heimat. Elli ist längst nicht mehr da, aber sie hat einen Spiegel dagelassen – der grüßt immer zurück, man muß aber zuerst grüßen. Manchmal kommen Leute aus Berlin; die sagen: »Sie haben aber hier … Donnerwetter noch mal – ich suche nämlich auch eine Wohnung in Paris – wissen sie nicht … « Nein, ich weiß nicht.

Manchmal wache ich an späten Nachmittagen auf; da liegen oben an der Decke schon schräg die Lichtkringel – so lange habe ich geschlafen. Heute abend ist das hinter der École Militaire – es kann sehr heiter werden, wenn die braune Kommerzienrätin da ist. Pfeifend schlurre ich ins Badezimmer – unterwegs werde ich durch widrige Winde in die Küche getrieben, wo noch etwas Büchsenananas steht. Hat die Wirtschafterin sie aufgefressen? Büchsenfrüchte sind manchmal giftig. Gott segne sie alle beide.

Jetzt ist es schon so lange her. Wann bin ich eigentlich hier eingezogen … ?, rechne ich einmal. Vier, fünf, warten Sie mal: sechseinhalb Jahre! Was ist hier alles entstanden? Bücher – zwei dicke Bücher – und sonst noch allerhand; liebevoll streicheln die Augen alles Erreichbare und alle Wände. Wenn ich verreist bin, sage ich manchmal so ganz nebenbei: »Meine pariser Wohnung – in meiner pariser Wohnung … «

If … Einen Nachmittag lang. Der Vertreter des Architekten, der die Wohnung für den gérant an Stelle des Hausbesitzers verhökerte, besaß einen copain, der war Prix de Rome und hatte eine Submission der Stadt Nantes zu vergeben. Unter diesen Umständen ist leicht zu begreifen, dass mir die Tochter der concierge, als ich auf Zehenspitzen das Haus anschlich, freundlich, aber ernst sagte: »Monsieur – il vient d'être loué.«

3 rue de la Terrasse, falls Sie die Adresse wissen wollen.

Peter Panter
Die Weltbühne, 16.11.1926, Nr. 46, S. 787,
wieder in: Mit 5 PS.