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Auf dem Nachttisch


Frank Heller, Kriminalromane, Herr Collin

Das Bett als Refugium vor dem Leben. Goethe und Mark Twain sind manchmal überhaupt nicht aufgestanden, bei Regenwetter oder wenn ihnen das Leben nicht gepaßt hat oder aus sonst einem schönen Grunde. »Von der Straße herauf«, steht in einem Roman, von dem wir gleich hören werden, »vernahm sie ab und zu das Gerumpel eines Lastwagens. In der Küche unter ihrem Zimmer hatte sich ein klappernder Lärm erhoben. Von allen Seiten her kam das wachsende Getöse des erwachenden Verkehrs. Sie fühlte sich hungrig und einsam. Das Bett war ein Floß, auf dem sie als einsame Schiffbrüchige saß, ewig einsam, treibend auf einem grollenden Ozean. Ein Schauer lief über ihr Rückgrat. Sie zog die Knie dichter ans Kinn herauf.«

Wäre ich nun der Reklamechef des Verlages Georg Müller, so sagte ich: »Hätte die Dame unsere Kriminalromane Frank Hellers gekannt, so wäre sie niemals schlechter Laune. Gegen solche Angstzustände gibt es – abgesehen davon – nur unsre Original-Heller-Kriminalromane! Regenfeste Ironie! Dauerhafte Spannung! Herr Collin in allen Lebenslagen!« So spräche ich, und ich hätte nicht einmal so unrecht.

Was ich über diesen Herrn Collin schon gelacht habe, das geht auf gar keine Kuhhaut, geschweige denn auf eine Weltbühnenseite. Man lese, was auf Seite 17 von ›Herr Collin ist ruiniert‹ steht, und wer dabei stockernst bleibt, dem will ich etwas schenken: eine Nagelfeile oder einen Toilettepapierhalter mit Musik oder, was dasselbe ist, einen Band von Karin Michaelis. Meist amüsiert man sich vom Blatt – freilich gibt es schwache Bände, aber auch viele gute: ›Lavertisse macht den Haupttreffer‹ und ›Karl-Bertils Sommer‹, die Ihnen sicher bekannten ›Finanzen des Großherzogs‹ (bester Offenbach!) und ›Herrn Filip Collins Abenteuer‹. Und ehe ich einen erschwitzten historischen Roman lese (Die römische Hochzeit Seiner Impotenz des Achtzehnten), lese ich lieber Hellern. Man vergißt so schön das Leid der Welt – es ist wie Whisky.

Immer kann man aber nicht Whisky trinken – man sollte es wenigstens nicht tun. Es gibt auch andre Getränke.


John Dos Passos, ›Manhattan Transfer‹

Da ist ›Manhattan Transfer‹ von John Dos Passos (bei S. Fischer in Berlin). Dieser halbe Amerikaner, dessen ›Drei Soldaten‹ (im Malik-Verlag) gar nicht genug zu empfehlen sind, hat da etwas Gutes gemacht. Ich denke, dass die Mode der amerikanischen Romane, die uns die Verleger und die Snobs durch Übermaß sacht zu verekeln beginnen, nachgelassen hat – und das ist auch gut so. Nicht etwa, weil nervöse und wenig erfolgreiche Reaktionäre der Literatur, zum Beispiel in den ›Münchner Neuesten Nachrichten‹, gegen die Übersetzungen aus dem Fremdländischen poltern –, sondern weil es zwischen der Hysterie der Anbetung und der Neurasthenie der Verdammung ein vernünftiges Mittelmaß gibt. Man soll fremde Länder kennen lernen – man soll sie nicht sofort segnen und nicht gleich verfluchen. ›Manhattan Transfer‹ ist ein gutes Buch – die Amerikaner haben sich da einen neuen Naturalismus zurechtgemacht, der zu jung ist, um an den alten französischen heranzureichen, aber doch fesselnd genug. Es sind Fotografien, nein, eigentlich gute kleine Radierungen, die uns da gezeigt werden; ob sie echt sind, kann ich nicht beurteilen, die Leute, die lange genug drüben gelebt haben, sagen Ja. Es ist die Lyrik der Großstadt darin, eine durchaus männliche Lyrik. Der Einsame auf der Bank: »Fein hast du dein Leben versaut, Josef Harley. Fünfundvierzig und keine Freude und keinen Cent, um dir gütlich zu tun.« Das hat einmal so gehießen: »Qu'as tu fait de ta jeunesse?«, und das ist von Verlaine und ist schon lange her, aber doch neu wie am ersten Tag. Das Mädchen da liegt auf ihrem Zimmer in der großen Stadt, schwimmt in der Zeit und ist so allein. Sehr schön, wie ein Mann auf der Bettkante sitzt, und da ist eine Frau, seine Frau, und ein Kind, sein Kind – und plötzlich sieht er, dass er »hagere rötliche Füße hat, von Treppen und Trottoirs verkrümmt. Auf beiden kleinen Zehen saß ein Hühnerauge.« Und da hat er Mitleid mit sich und weint.

Das Buch ist auch formal gut – Dos Passos ist nicht nur ein Dichter, sondern auch ein begabter Schriftsteller. Sehr hübsch ist diese Denkfigur, der man öfter bei ihm begegnet: »Auf dem Treppenabsatz befand sich ein Spiegel. Kapitän James Merivale blieb stehen, um Kapitän James Merivale zu betrachten.« Und diese, die gradezu programmatisch ist und viel tiefer als sie, leichtgefügt, wie sie ist, zu sein scheint: »Nichts hat so viel Erfolg wie der Erfolg.« Eine ähnliche Drehtür des Stils steht bei Sinclair Lewis, im ›Elmer Gantry‹, einem Buch von dem hier noch ausführlich die Rede sein soll … Ein einziger Klub, heißt es da, wird Herrn Gantry, den Prediger, vielleicht aufnehmen. »Des Ansehens wegen. Um zu beweisen, dass sie unmöglich den Gin in ihren Schränken haben können, den sie in ihren Schränken haben.«

Die Übersetzung von ›Manhattan Transfer‹ durch Paul Baudisch ist sauber und anständig. Kleine Anmerkung: Man sagt im Deutschen kaum: »Das macht mich zipflig« –, sondern wohl immer: »Das macht mich kribblig«. Und was ist dies hier? »Dü Mauretania läuft öben eun; vürundzwanzig Stunden Verspötung« – Spricht eine alte gezierte Dame so? ein Oberhofprediger? Nein, das ist die Übersetzung irgendeines ›slang‹, und die Männer, die sich mit Übertragungen aus dem Englischen befassen, sollten sich das abmachen.


Marquis, ›Henry Ford‹

Weil wir grade bei Amerika sind: da ist eine Kümmerlichkeit über Ford erschienen. (S. Marquis ›Henry Ford‹ bei Carl Reißner in Dresden. Das Buch ist übrigens zu teuer.) Vorn bewährt ein Mann, der offenbar Geistlicher ist. Männerstolz vor Dollarthronen, indem er zeigt, wie unfordisch der Automobilmann seine Angestellten behandelt; wie sie nicht auf anständige Art gekündigt, sondern verärgert und herausgedrängt werden, große Unternehmen haben ja zur Entlastung des Chefs gewöhnlich zwei bis drei Herren für den Meineid … und man bekommt überhaupt einen etwas gemischten Eindruck von dieser Seelenmühle der Humanität. Hinten steht von einem andern Autor das Gegenteil: welch ein großer, welch ein gütiger, gediegner, hilfsbereiter, sozial empfindender Mann dieser Ford sei. »Seinen gesamten Kriegsgewinn – 29000000 Dollar – hat Ford bedingungslos, ohne Einschränkungen und Rückhalt, an die Regierung abgeliefert. So handelte ein Pazifist.« Genau so.


›Jahrbuch des Verlages Paul Zsolnay‹

Klapp. Ein Buch ist vom Bett gefallen, liegen lassen ist aus Prestigegründen unmöglich – die andern Bücher machten sich die Schwäche sofort zunutze und fielen alle gleichfalls. Was ist das –?

Es ist das ›Jahrbuch des Verlages Paul Zsolnay‹ – eine sehr lesenswerte Sache. Dieser Verlag, der noch ganz jung ist, hat sich in wenigen Jahren zu einer beachtlichen Höhe aufgeschwungen, und grade, weil ich einen Teil seiner Autoren für umstritten halte und andre für einen gediegenen Zeitvertreib der gebildeten Mittelklasse, so ziemlich das unausstehlichste, das es in Deutschland gibt, blättere ich gern in seinen Büchern. Er hat Galsworthy, den ich nicht lese, und den großen Heinrich Mann; er hat Molnár und Max Brod, den ich immer lese, und er hat H. G. Wells. Das ist ein Kerl! Der einzige, dessen Optimismus über den Lauf der Welt nicht fade schmeckt; ein goethescher ›Dilettant‹ im edelsten Sinne; ein gebildeter Unfachmann – ein Dichter und ein Mann des Fortschritts und tausendmal wertvoller als der ganze Shaw.

Sehr reizvoll ist in diesem Jahrbuch ein Kapitel Franz Werfels ›Der Snobismus eine geistige Weltmacht‹. Das Negative daran ist zum Teil brillant; das Positive … es fällt mir schwer, das zu sagen: aber es ist etwas von Rentenphilosophie darin, von Geborgenheit, von etwas, das er »verwurzelt« nennt und das doch nur die Sicherheit ist, die ein Scheckheft gibt. Ich mag solche geborgenen Menschen nicht. (Was nichts mit Werfels großen dichterischen Qualitäten zu tun hat.)

Merkt man noch an, dass die Bücherpreise Zsolnays erfreulich vernünftig, weil so niedrig wie möglich kalkuliert sind, so kann man dem Verlag nur Glück auf den Weg wünschen.


Franz Molnár, ›Die Jungen der Paulstraße‹

Also Molnár ist auch bei Zsolnay erschienen – aber ein entzückendes kleines Buch Franz Molnárs hat er nicht; das hat E. P. Tal in Leipzig: ›Die Jungen der Paulstraße‹. Das ist ein Bijou. Das Bijou ist infam ausgestattet: es hat einen niederträchtig schlechten Einband und ebensolche Zeichnungen; das wollen wir aber gar nicht. Entweder ihr laßt solche Jungens-Szenen von einem großen Künstler zeichnen – sagen wir einmal: von der Frau Sintenis – oder ihr zeichnet naturalistisch durch, wie es die Engländer oft tun: ich bin so altmodisch, zu verlangen, dass wir, wenn schon keine künstlerischen Visionen da sind, wenigstens deutlich erkennen können, wer wer ist. Diese Figuren da sehen aus wie Zeichnungen, die Jungen an die Mauern kritzeln – aber sie sind nicht halb so lustig. Das Buch hätte eine bessere Ausstattung verdient.

Ein Kapitel kannte ich schon: ich hatte es im ›Welthumor‹ gelesen, eine der wenigen erträglichen Anthologien; Roda Roda und Theodor Etzel haben sie bei Albert Langen in München herausgegeben, sechs sehr zu empfehlende Bände, an denen es viel zu lernen und zu lachen gibt. Darin steht die Sache vom ›Kitt-Verein‹. Die Jungen der Paulstraße hatten nämlich, was streng verboten war, einen Kitt-Verein gegründet, Zweck: unbekannt, Tendenz: unbekannt, Sinn: unbekannt, und doch so bekannt. Zweck, Tendenz, Sinn: einen Verein zu gründen. Er heißt ›Kitt-Verein‹, weil der Präsident die Pflicht hat, den Vereinskitt (›Gitt‹ geheißen, ja nicht: Kitt) zu kauen – und nun läuft das arme Kind den ganzen Tag mit diesem schmutzigen Kloß im Munde herum und kaut. Es ist ganz und gar herrlich. Im übrigen führen die Herren Knaben Krieg; sie führen Krieg mit den ›Rothemden‹, Jungen von einem andern Spielplatz, und die wollen ihnen den ›Grund‹ rauben, einen leer stehenden Bauplatz … Krieg! Krieg!

Besser ist das Wesen einer Gruppe, also eines Vaterlandes, noch selten gezeigt worden wie hier. Die Untergebenen des Oberführers salutieren in der Klasse. »Die andern Jungen, die nicht zu der Paulstraßengruppe gehörten, beneideten diese ungeheuer, als sie Boka salutierten, zum Zeichen, dass sie die Anordnung des Präsidenten zur Kenntnis genommen hatten – « Sollten wir das nicht schon mal erlebt haben –? Dann pappt der Präsident eine Proklamation an die Mauer, und die Heerestruppen gehen um sie herum und lesen sie.

UNSERM REICHE DROHT EINE GROSSE GEFAHR!

»Einige können sie schon auswendig und trugen sie von der Höhe eines Holzstoßes in kriegerischem Ton den Umstehenden vor, die den ganzen Wortlaut gleichfalls auswendig wußten, aber doch mit offenem Munde zuhörten und, wenn sie zu Ende gehört hatten, zur Planke liefen, den Aufruf von neuem lasen, und dann selbst auf einen Holzstoß kletterten, um ihn von der Höhe herab zu deklamieren.« Wer wagt es zu streiken, wenn Hindenburg befiehlt? Und dann ihre Freude am Apparat! Da ist einer, der kann so schön auf zwei Fingern pfeifen. Und einmal unternimmt er eine sehr kriegerische Handlung, nur in der Hoffnung, dabei einmal herzhaft pfeifen zu können … Und zwei haben sich gezankt, aber weil jetzt Krieg ist, müssen sie sich, laut Geheiß des Präsidenten, versöhnen. Sofort! Ohne Umstände. Das tun sie auch. Aber sie haben eine Bitte. Nun? »Daß ich, wenn uns die Rothemden nicht angreifen sollten, dass ich … und Kolnay dann wieder Feinde sein könnten … « Die Krise, steht manchmal in den deutschen Zeitungen, wird bis nach dem Weihnachtsfest vertagt.

Zum Schluß ist das Buch etwas weinerlich, eine grade noch erträgliche Leierkastensentimentalität steigt auf, unterbrochen von einem wirklich schönen Satz des schwerkranken kleinen Jungen, der sich für sein ›Vaterland‹ die Erkältung und damit den Tod geholt hat. Du stirbst nicht, sagt ihm sein Freund. »Du sagst, es ist nicht wahr?« – »Ja.« – »Lüge ich vielleicht?« Man beruhigt ihn. Aber er läßt sich nicht beruhigen. »Also, ich gebe mein Wort darauf, dass ich sterbe!«

Ich glaube, dass Frauen mit dieser Erzählung sehr viel anfangen können – eine Mutter wird das Buch noch besser verstehen als ein Mann. Übrigens ist es ein Vorkriegsbuch – seltsam, dass die meisten Dinge erst dann literarische Gestalt annehmen, wenn sie schon lange vorbei sind; ferne Planeten zeigen sich Lichtjahre nach ihrer Entstehung an. Das Buch gilt ganz und gar für meine Generation – die Jungen spielen heute anders, fühlen anders, sprechen anders; nicht, als ob sich die Menschen änderten, aber die Ausdrucksformen ihrer seelischen Regungen ändern sich. Heute ist vieles wohl mehr ins Sportliche, ins Technische transponiert – wir wissen das noch nicht. Denn, was sich da als ›heutige Generation‹ aufkakelt, ist gar keine. Da ist das Loch, das der Krieg gerissen hat: eine Generation fehlt. Ein Repräsentant wie etwa Erich Ebermayer ist überhaupt nichts – nur unbegabt und unjung, und leicht verschmockt sind sie fast alle. Man braucht nicht gleich auf das Niveau Klaus Manns herunterzusteigen, der von Beruf jung ist und von dem gewiß in einer ernsthaften Buchkritik nicht die Rede sein soll – aber wie alt sind sie! wie fertig! Wenn es noch Chaos wäre! Aber es sind fix und fertige Feuilletonredakteure mittlerer Provinzblätter, und keine guten.


Paul de Kruif, ›Mikrobenjäger‹

Die Guten lassen leider fast überall eine Sitte durchgehen, die eine saubere Buchkritik auf das schärfste kompromittiert. Es ist da ein Lobgehudel ausgebrochen, das jede Empfehlung wertlos macht: es gibt keinen Verlag mehr, der nicht für jedes seiner Bücher ein Zeugnis vorweisen kann, wie es Dante, Balzac, Strindberg, Tolstoi und Dostojewski zusammen nicht bekommen haben. Das ist leicht erklärlich: es gehört nämlich gar nichts dazu, leere Ballons aufzupusten – und nichts wiegt leichter als diese kleinen Lobeshaufen, die man an jeder Straßenecke zusammenfegen kann. Da schreibt jeder über jedes, da wissen alle alles – Aber es ist doch eine Lüge und ein Schwindel, wenn jede neue Verlagsentdeckung (»In Amerika 80000000000000 Exemplare verkauft«) vier, zehn, hundertundzehn Literaten findet, die nur darauf gewartet haben, dergleichen hochzuloben. Diese Snobs, die einen neuen Modeschriftsteller wie eine Krawatte tragen, sollte man nach Hause jagen – bald wird das Publikum auf kein Lob mehr hören und nichts mehr glauben, wenn man es so anlügt.

Meist lohnt es nicht, zu ›verreißen‹, wozu ein nur billiger Mut gehört – aber manchmal lohnt es, grundsätzlich etwas über ein Buch auszusagen, weil man dabei etwas lernen kann.

Da habe ich also gelesen, wie wunderbar schön die ›Mikrobenjäger‹ von Paul de Kruif seien. (Im Verlag Orell Füßli, Zürich und Leipzig.)

Das Thema ist eines der schönsten, das es gibt: der echte Sieg von Menschen über die Materie, und noch dazu über die lebende. Nichts ist so groß wie ein biochemisches Rätsel. Dazu kommt, dass diese Wissenschaft sehr, sehr jung ist, kaum ein Menschenleben alt – wieviel Heroismus, Geduld, Zähigkeit, Fleiß und Intuition haben dazu gehört, damit entdeckt werden konnte, woran lebende Organismen zugrunde gehen. Von der Therapeutik zu schweigen: diagnostisch ist ein Fortschritt da, daran ist kein Zweifel. Paul de Kruif ist ein junger amerikanischer Arzt, und was hat er nun mit seinem Thema gemacht –?

Er hat es verniedlicht. Er nennt die Mikroben »die Teufelchen«, und er hat es fertig bekommen, aus den Willensmenschen Koch und Pasteur und Ehrlich Helden in baumwollgestrickten Rüstungen zu machen. »Ei, da gabs doch in der Nähe jene großartigen Farbenfabriken«, wird anläßlich der Forschungen über die Syphilis gesagt, »aus denen die Großmeister der industriellen Chemie Tag für Tag ganze Buketts von entzückenden Farben in die Welt sandten.« Very nice, is'nt it? Daß er einmal im Zusammenhang mit den Mikroben das Wörtlein »Husch!« verwendet, nur nebenbei – ich dachte im ersten Augenblick, Hans Reimann hätte die Ausgabe ein bißchen bearbeitet.

Sagte ich ›Forschungen über Syphilis‹? de Kruif sagt das nicht gern. »Die gewisse ekelhafte Krankheit mit dem verpönten Namen« … Und einmal: »Eine dicke Lage von einem Stoff, den wir lieber nicht nennen wollen« und: » … bessere und immer bessere Linsen herzustellen, wie er dann aber alles damit untersuchte, auch die heimlichsten und ekelhaftesten Dinge.« Was sind in der Medizin ›heimliche Dinge‹? Sperma? Exkremente? Es ist einfach eine Unanständigkeit, für ein Buch, das sich mit Fragen der Wissenschaft befaßt, die Sittlichkeitsanschauungen einer mittleren Amerikanerin zur Norm zu machen.

Unterbrochen wird dieser Unfug durch die Schilderung von Ärzten, die scheinbar raunzt, in Wirklichkeit aber diese Romanhelden goldisch findet. Pasteur klettert in seine kleine Dachkammer herauf, die er sich in der École Normale Supérieure eingerichtet hat – »Am nächsten Morgen flog er zu seinem gebrechlichen Inkubator, er wußte gar nicht, wie er hinaufgekommen war, natürlich ohne Frühstück!« Denk mal, Anne: ohne Frühstück! Und die Versuchstiere sprechen so niedlich: eine Schildkröte, an der experimentiert wird, »steckte ab und zu den Kopf aus dem Panzer und schien aus einem Auge zu zwinkern: ›Fein schmecken sie, die Bazillen, bitte um mehr!‹« So, genau so steht die reisende Frau Roseberry vor dem Capitol in Rom, Man weiß manchmal nicht, ob sich der Mensch, der das geschrieben hat, nur so lacknaiv stellt oder es wirklich ist. Von Frau Pasteur: » … nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatte, deren Vater er in der Zerstreutheit geworden war … « Als Witz wäre das sehr gut – aber ich fürchte, es ist ein unabsichtlicher. Mitunter jedoch ist dieser Entdecker der Sacharin-Mikroben, der seine Forscher Monologe im Geiste einer Sonntagsschule halten läßt, durchaus nicht naiv, sondern bösartig.

Die Art, in der der Franzose Pasteur und der Deutsche Koch gegeneinander ausgespielt werden, ist höchst unfair – doppelt unfair für einen, der solange in Frankreich am Institut Pasteur gearbeitet hat. Immer wieder wird die alberne Nationalitätenfrage in dieses Gebiet getragen – und mitunter steckt der echte, schlechte Amerikaner hundertprozentig seinen Kopf hervor. Von Ehrlich und seinem Assistenten Shiga: »Diese Bestien (die Mikroben) machen sich gar nichts daraus, wenn ein Jude und ein Japaner ihre Beharrlichkeit vereinigen, um sie mit leuchtenden Farben zu vergiften.« Es wimmelt von solchen Stellen, deren Geschmacklosigkeit so groß ist, dass man nicht weiß, ob sie auf Frechheit oder Dummheit oder auf stilistischem Unvermögen beruhen. Wenn einer von einem Professor schreibt, er gehe »in seiner saloppen Poetenhaltung« herum, dann ist er eben ein Kaffer. Peinlich, wenn sich so etwas an große Männer mit der Gehirnleere eines Fußballspielers anbiedert: »Er konnte aber auch, so beweglich war das Japchen, ein Dutzend Experimente zugleich durchführen.« Kurz: so sieht das aus, was der Übersetzer, der seine Sache recht gut gemacht hat, im Vorwort »vornehme Popularität« nennt.

Dabei hat das Buch echte und seltene Helden zum Thema: denn dies sind Helden, die sich die Lues und das gelbe Fieber zu Versuchszwecken injizieren ließen. Die Witwe eines Mannes, der dabei draufging, bekam vom amerikanischen Kongreß fünfzehnhundert Dollar jährlich, was drüben nicht viel ist und einer, der beinah draufgegangen wäre, erhielt eine goldene Uhr und 115 Dollar, und vom lieben Gott wurde ihm eine kleine Paralyse dazu verliehen. Das sind wahre Helden – nicht die Herren Hindenburg und die andern.

Das Buch ist selbst eine Mikrobe: die der amerikanischen Weltkrankheit. Dieser verniedlichte Tod, diese Karikaturen, die so aussehen, wie sich eine höhere Mädchenschulvorsteherin einen heldenhaften Arzt vorstellt: diese fatale Anmeierei an ein halbgebildetes Publikum, das solche Bücher gern liest, weil das »Thema ihm so hübsch nahegebracht«, also heruntergebracht wird, so dass man nachher schön darüber mitreden kann: es ist das eine Verbreitung der ›Bildung‹, die mir auf das höchste zuwider ist. Und nicht das ist das Tadelnswerte, dass es hüben und drüben Lessinghochschulen gibt, sondern dass sich die Leute, die sie besuchen, wer weiß was darauf einbilden und sich nie gebildete Laien nennen, sondern als ›ernste Kenner‹ durch die Welt spazieren.

Ohne uns. Wenn das drüben die Art ist, ein schwieriges und wichtiges Thema an die Massen zu bringen, so soll uns das nicht kümmern. Aber es ist doch wohl nicht nötig, in Europa noch einmal auf den infantilen Standpunkt eines jungen Landes zurückzugehen und wieder von vom anzufangen. Immerhin hat es ja hier einmal so etwas wie einen Humanismus gegeben. Nicht einmal – auf 346 Seiten nicht ein Mal ein Aufblick zu den Sternen: kein Gefühl für das Geheimnisvolle in der Natur – gestrickter Pietismus und kein Gran von Frömmigkeit. Amerika hat wertvolle Leute. De Kruif ist ein guter Freund von Sinclair Lewis und ein geistiger Nährvater des ›Dr. Arrowsmith‹? Es tut mir sehr leid: sie sollen ihn drüben behalten.

Jetzt haben wir uns aber richtig in Schlaf geärgert, das Licht erlischt, und die Gedanken kreisen um die Mikroben eines prohibitionistischen Kamillentees, gegen den es offenbar kein Toxin gibt. Doch: es gibt eines. Die lernbegierige Offenheit eines älteren Kontinents und das Selbstgefühl, auch den Wolkenkratzern gegenüber Europäer zu sein.

Peter Panter
Die Weltbühne, 21.02.1928, Nr. 8, S. 287.