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Gleichzeitigkeit

… Das ungeheure Wunder der Gleichzeitigkeit … Sie ist eines. Dies zu denken: du sitzt auf dem Hof der Fabrik und frühstückst, hier in Berlin, etwa in der Köpenicker Straße, und gleichzeitig, während du das tust, weht – heute angenommen, morgens 1/2 11 Uhr – der Wind oben auf einem Gletscher der Jungfrau ein bißchen Schnee zusammen, rings ist es totenstill … und zur gleichen Zeit kochen wirbelnd dreitausend Mexikaner im Rund einer Arena wie in einem Topf um einen irrsinnigen Stier und die Eingeweide zweier Pferde … und zur gleichen Zeit stehen sich in einem hohen Haus zu Chicago zwei Männer gegenüber, Blick in Blick, die Hände fest auf dem Tisch … und irgendwo brüllt einer auf, im Echo des Waldes, und Wilde stoßen auf Kanus vom Lande ab, und einer sagt: Claire … nicht, nicht weinen! Ruhig sein, so … so … Alles, während du frühstückst.

Das ist so eine Sache mit diesem Wunder: Da steht zum Beispiel in prächtiger Uniform der Herrscher eines Landes auf einem gelbsandigen Platz, der weit von Menschen umsäumt ist, und spricht: Ehre des Vaterlandes … sagt er … und: Jedem das Seine! … und: Bürgerrechte und Frieden – – und während alledem pufft und knufft ein Wachmann einen armen Inhaftierten auf der einsamen Polizeistube, tausend Meilen entfernt von dem redenden Herrscher, aber zur gleichen Zeit … Oder in einer Gerichtsverhandlung erhebt sich der Staatsanwalt und sagt krähend: »– und so haben diese Burschen das Leben der Arbeitswilligen verletzt! Das Leben aber und die Gesundheit der Bürger … schützen … – –« und während alledem wirbeln in einem entfernten Bergwerk, tief unter der Erde, Knochen und Arme und Köpfe durcheinander, schwarzer Rauch stickt das Stöhnen Zerrissener … Alles zu gleicher Zeit. Und man kann es dem lieben Gott, der doch von oben alles übersehen kann, nicht verdenken, wenn er hier und da, wenn sie ihm die Kreuzzeitung zu lesen bringen, ein bißchen lächelt …

tu.
Vorwärts, 16.08.1912.