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Gegen den Strom

Ein erschütterndes Zeitdokument liegt vor mir: ›Gegen den Strom‹, Aufsätze aus den Jahren 1914-1916 von N. Lenin und G. Sinowjew (bei Carl Hoym in Hamburg). Die fünfhundert bedeutendsten Seiten, die im Kriege geschrieben worden sind.

Die Verfasser flüchteten bei Kriegsausbruch aus dem österreichischen Galizien in die Schweiz, dort gaben sie den ›Sozialdemokraten‹ heraus, dann eine Nummer des ›Kommunisten‹, dann zwei Hefte des ›Sammelbuchs des Sozialdemokraten‹. Dieser Sammelband eben hieß: ›Gegen den Strom‹. Gegen welchen –?


Die Sozialdemokraten der großen kriegführenden Länder waren gleich zu Beginn glorreich umgekippt. Noch in den letzten Julitagen konnte man in Frankreich und in Deutschland sozialistische Proteste lesen, die den Krieg als das charakterisierten, was er war: als einen imperialistischen Streit kapitalistischer Gruppen, dessen Ausgang dem Proletarier auf keinen Fall Gutes bringen konnte; Sieg und Niederlage waren in der Tat für den Arbeiter, der kein Vaterland hat, gleichgültig. Zu Beginn des August las mans anders. Da erließ jede Fraktion in jeder Hauptstadt der europäischen Reiche eine Erklärung, dass dieser Krieg auch ihr Krieg sei. »Das Vaterland ist in Gefahr … Verteidigung des Landes … Kultur und Unabhängigkeit unsres eignen Landes … kein Eroberungskrieg … « Es war das Ende der Internationale, auf die sich übrigens die Waschlappen alle beriefen. Gegen diesen Nilschlamm kämpft das Buch.

Diese Aufsätze sind stilistisch fast völlig schmucklos, sind gewiß nicht schön ›geschrieben‹. Aber ich glaube nicht, dass ein Ertrinkender auf die kunstgewerbliche Ausführung seines Rettungsringes sieht. Lenin ist womöglich noch trockener, noch sachlicher, noch karger als Sinowjew – fast immer, wenn ein Artikel ein wenig lebendig anfängt, wenn Rede und Gegenrede zitiert werden, rührt er von Sinowjew her. Lenin ist ganz Tatsache, ganz Dokument, ganz Tendenz, ganz Eisen.

Was zunächst auffällt, ist der ununterbrochene, trommelnde, niemals nachlassende, nie aussetzende Kampf gegen die Verpfuscher des Klassenkampfes. Die militärische und kapitalistische Gegenseite wird als bekannt unterstellt, sie ist wissenschaftlich festgelegt, hier wundert nichts mehr. Was aber den paar Russen beinah noch gefährlicher erschien und es auch war, ist dies: eine ›Klassenkampf‹ plakatierende Partei lockt die Massen zu sich, lullt sie ein, verspricht ihnen Befreiung und Umsturz, verrät sie, als es zum Klappen kommt – und beabsichtigt, das Spiel nach dem Kriege fortzusetzen. Hier war einzusetzen, hier haben sie eingesetzt.

Das ganze Kriegsverbrechen der II. Internationale, der königlich preußischen, der braven französischen, der revisionistischen russischen Sozialdemokratie geht aus diesen Aufsätzen hervor, die anklagen, nachweisen, das Urteil sprechen.

Uns interessiert am meisten das Urteil über die deutschen Kriegskreditbewilliger, über die Herrliches gesagt wird. »Ebert«, so schrieb neulich ein Leser der ›Weltbühne‹, »hätte doch nicht die von Wrobel gewünschte Haltung einnehmen können; vor 1918 wäre er bestimmt zum Sandhaufen verdammt worden.« Lenin: »Man hätte uns verhaftet! soll in einer Arbeiterversammlung in Berlin einer der Reichstagsabgeordneten gesagt haben, die am 4. August für die Kriegskredite stimmten. Darauf riefen ihm die Arbeiter zu: Na, wenn schon!« Es ist ganz richtig, wenn von Feiglingen, die ›Wissenschaftlichkeit‹ über ihren traurigen Mangel an Mut und Charakter decken, heute gesagt wird: Eine Revolution konnte man damals nicht machen – weil man überhaupt keine Revolution ›machen‹ kann. Wer hat das verlangt? Lenin: »Über die Stellungnahme zum Kriege konnten sich (1914) einigermaßen frei nur eine ›Handvoll Parlamentarier‹ äußern, das heißt: ohne sofort gepackt und in die Kaserne geschleppt zu werden, ohne von unmittelbarer Erschießung bedroht zu sein, ausschließlich eine Handvoll Parlamentarier. Sie stimmten frei, rechtsgemäß, sie konnten noch dagegen stimmen – dafür wurde man nicht einmal in Rußland geschlagen oder mißhandelt, ja nicht einmal verhaftet … « Und wenn sie es getan hätten? fragt die Gegenseite. Wäre dann der Krieg abgebrochen worden. Nein. Aber die Massen, Unorganisierte und besonders Organisierte, hätten Mut bekommen, hätten den Krieg besser durchschaut und hätten das getan, was man ihnen heute in Deutschland vorwirft, und was sie leider nicht getan haben: sie hätten die Front erdolcht.

Denn hier scheiden sich die Wege: der breite der Kautsky, Bernstein, Südekum, Scheidemann, Ebert – und der schmale, der zum Ziel führt. Der Arbeiter hat kein Vaterland; er kämpft, wenn er dieses ›Vaterland‹ verteidigt, einzig und allein für den Wechsel seiner Ausbeuter, und im großen ganzen kann ihm gänzlich gleichgültig sein, unter welcher Fahnenfarbe er ausgenutzt wird. Was wir erlebt hätten, wenn Deutschland gesiegt hätte, ist nicht auszudenken. Daß Staaten nach ihren Niederlagen meist weniger reaktionär sind als nach einem Sieg, den sie als Reklame für ihr System plakatieren, zeigt nur, welche immense Schuld die deutsche Sozialdemokratie nach dem Kriege auf sich geladen hat: es ist gradezu ein Kunststück, einen besiegten Staat in so kurzer Zeit weit unter sein Vorkriegsniveau zu treiben und noch reaktionärer werden zu lassen.

Karl Kautsky wird immer sachlich widerlegt. Die großen Verdienste Eduard Bernsteins werden stets anerkannt, wenn der entsetzliche Schaden, den er seiner Sache beigebracht hat, gezeigt wird. Bernstein … Ich sah ihn zum ersten Mal in den Tagen des Kapp-Putschs; meine ersten Worte nach der Begrüßung waren eine gerechte Charakterisierung Noskes, der damals grade auf Reisen war: er immer vorneweg, seine Schützlinge hinterher. Leider haben sie ihn nicht bekommen. Bernstein lief rot an und nahm hitzig den Renegaten in Schutz. Ich stand da, mit dem Hut in der Hand: vor mir der, von dem ich wußte, dass er durch Duldung der Verbannung sein Bestes für die Partei gegeben hatte, ein Mann, dessen Haar grau geworden war in Uneigennützigkeit. Ich schwieg. Es war schwer, zu schweigen. Denn er war die Gefahr.

Die Gefahr, der Millionen erlegen waren. Die Gefahr des Klassenkampf-Plakats, hinter dem nichts stand, nichts als kleinbürgerliche Demokratie, Reformmeier, kleine Weltverbesserer, die ›Mißstände abstellten‹. Betrogen die Arbeiter, betrogen die Gläubigen, die Opfernden, die jungen Menschen und die ergrauten. Und wofür –? Ein Glanzstück des Werkes: ›Die deutsche Sozialdemokratie und die zukünftige Internationale‹ bringt ein Zitat aus den ›Preußischen Jahrbüchern‹, das das ganze Elend in einen einzigen Satz fängt. Es ist nach der ›patriotischem‹ Haltung der Sozialdemokraten im Reichstag. »Selbstverständlich haben unsre sozialdemokratischen Mitbürger durch die Erfüllung vaterländischer Pflichten keinen besondern Anspruch auf Entschädigung erworben.« Judas, und nicht einmal dreißig Silberlinge.

Abgefangen war das Streben der Massen nach Klassenkampf, die Friedenssehnsucht, das dumpfe Streben, aus den Gräben herauszukommen … abgefangen und unschädlich gemacht. Sie zahlten noch immer ihre Mitgliedsbeiträge – aber die Partei war längst tot.

Immer wieder überrascht in dem Bande die fast prophetische Gabe, mit der die Weltgeschehnisse angesehen werden. Man denke dagegen an das Geschrei der Parlamentarier im Kriege; an die Forderungen der Industrie; an die Leitartikel, besonders an die, die ohne den Druck der Militärbehörden zustande kamen; an das Wirken all dieser ›Realpolitiker‹, die nicht über das nächste Bezirkskommando sehen konnten; an Paulchen Rohrbach, dieses Waldhorn der Politik (der heute noch munter schreibt, nach so vielen Blamagen immer noch Leser findet, die nicht alle werden) – man denke an alles das und entscheide, auf wessen Seite die Klarheit und die Wahrheit stand. Ach, wie haben diese beiden recht behalten!

Und wie kläglich wirkt solchem Buch gegenüber der maßgebende Typus des deutschen Sozialdemokraten, der es wagt, Wilhelm Liebknecht zu feiern, den Mann, auf den er jedes Anrecht verloren hat. »Wilhelm Liebknecht gehörte der agitatorischen Periode des Sozialismus an.« So kann mans auch nennen. »Reinhardt«, sagt der Schmierendirektor der Provinz, »muß historisch erklärt werden.« In solchem Wust von Charakterlosigkeit, Bequemlichkeit, Beharrungsvermögen und Blindheit vor den eignen Niederlagen wirken die Russen wie die ersten Chemiker im Zeitalter der Alchimie; wie die ersten Astronomen inmitten astrologischer Quacksalber. In diesem Scheidewasser lösen sich auch die künstlichsten Kristalle: ich weiß, wie schmerzlich es ist, eingeordnet zu werden, alles sträubt sich dagegen, wenn Barrès ein ›Reaktionär‹ genannt wird, weil er ja auch noch eine Kleinigkeit mehr war. Aber doch nur eine Kleinigkeit, und auf die kommt es nicht an. Nein, es kommt nicht auf sie an. Das ist hier mit stählerner Mathematik bewiesen.

Dazwischen einmal, ein einziges Mal ein Sentiment. ›Zu Tode gemartert‹: ein Nachruf auf den russischen Revolutionär W. Lomtadidse, der in Saratow elend zu Grunde ging. Wie ein kleines schwarzes Kreuz starrt das in diesen grauen Artikeln.

Überzeugend ihre Stellung zu den Pazifisten.

Zunächst: sie sind gar keine. »Wir sind gar nicht gegen alle Kriege. Wir sind gegen ihre Kriege« – und ›ihre‹ ist kursiv gedruckt und enthält eine Welt. Endgültig festgestellt ist das Wesen der Kriege – denn immer wieder legen beide den größten Wert darauf, dass es das nicht gebe: den Krieg. Sie schälen den wahren Grund, die wahren Ursachen des jedesmaligen Krieges heraus: den Nationalkrieg; den imperialistischen Krieg, wie der letzte einer war; den Krieg, den die Kolonie zu ihrer Befreiung von der Kolonialmacht führt … und so fort. Und sie entscheiden danach, ob die ausgebeutete Klasse von ihrer Teilnahme einen Vorteil hat oder nicht. Nur dies gilt.

»Also hätte Deutschland sich 1914 unterwerfen sollen?« So fragt die Dummheit. Was fehlte, war die revolutionäre Propaganda gegen den Krieg auf allen Seiten, der Massenstreik auf allen Seiten, der Bürgerkrieg auf allen Seiten. Dazu gehörten: Vorbereitung, Mut, illegale Organisation und Führer, die nicht schon während des Verrats fest entschlossen sind, sich hinterher zu ›amnestieren‹. »Wenn wir diese Zeit der Ungeheuerlichkeiten überstanden haben werden, wird es erst Pflicht sein, einander nicht bei Wort zu nehmen«, sagt noch einer der Besten, der Sozialdemokrat Victor Adler. Man denke das zu Ende: wir toben jetzt wie die Wilden mit den Kapitalisten, um ihren Krieg zu machen, ihre Interessen zu vertreten, wir feuern unsre Leute noch an, die Genossen der andern Seite zu schlachten, selbst zu krepieren wie das Vieh – und hinterher sagen wir: Es ist nichts gewesen. Für wen wird das nationale Wort denn gesprochen, wenn es nachher nicht gelten soll? Sagen wirs getrost: es ist aus Angst gesprochen worden.

Freilich sah das auf allen Seiten gleich aus.

Die französischen Sozialisten waren meist um keinen Deut besser – manche Überlebende, die ich kenne, unterscheiden sich in nichts von Scheidemann, es sei denn durch ihren Intellekt –, und auch Jaurès ist zeitig gestorben. Mit feinstem Instinkt wird er von den Russen immer ein bißchen à part behandelt; sie sind mit Recht überzeugt, dass auch er in die Regierung gegangen wäre, für die ›Verteidigung des Vaterlandes‹ – aber wenigstens hat er sich bis zum letzten Tag seines Lebens, der allerdings der entscheidende war, tapfer gehalten.

Von Herrn Vandervelde ist eine reizende Szene aufbewahrt. Dieser Arbeitervertreter war Minister ohne Portefeuille, als es losging – die belgische Regierung wußte, warum. Er sollte die russischen Sozialisten beruhigen, doch nur wenigstens jetzt nicht (wo es drauf ankam) Opposition zu machen. Er wollte ihnen telegrafieren, brauchte dazu aber die Zensur des russischen Botschafters in Brüssel. Hier der Bericht des Botschafters: »Am Tage darauf machte ich die Bekanntschaft Vanderveldes … Das Gespräch kam auf das Telegramm, und Vandervelde las mir den ursprünglichen Text vor. Er begann so: ›Wir kämpfen gegen den Militarismus und Imperialismus … ‹

›Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern sagen, dass ein solches Telegramm nicht durchgelassen wird. Sie rufen die Untertanen des russischen Reiches auf, gegen den Imperialismus zu kämpfen … ‹

›Ja, aber doch nicht gegen den russischen –‹ unterbrach er mich rasch – ›sondern den deutschen, den kriegerischen Imperialismus, der alle bedroht … ‹

›Warum also nicht: gegen das preußische Junkertum?‹

›Ach, ausgezeichnet! natürlich gegen das Junkertum!‹

So wurde das Telegramm abgefaßt … «

Und das vertritt heute den Weltfrieden in Genf.


Der Kampf gegen die falschen Freunde, die schlimmsten Feinde in einem Kriege, der, wie sich heute deutlich zeigt, gegen die Arbeiter geführt worden ist – dieser Kampf tobt durch das ganze Buch. Und doch ist der Zorn dieser beiden so ganz anders als die Wut auf der andern Seite.

Ich kenne viele deutsche Sozialdemokraten, die gradezu Krämpfe bekommen, wenn von den Leuten, die links von ihnen stehen, die Rede ist. Diese blauroten Köpfe, diese kippenden Falsettstimmen, dieses Gefuchtel mutet sonderbar an. Woher der Eifer –? Die Wut dieser Arrivierten, dieser kleinen Beamten, die in ihrer ›Organisation‹ nicht gestört werden wollen, dieser Knaben, die in dem Augenblick, wo sie in der Regierung sitzen, alles vergessen, was sie vorher gepredigt haben, um in die Regierung zu kommen – diese Wut ist mit dem Seelenzustand eines angebundenen Haushundes zu vergleichen, dem sich das Fell sträubt, wenn nachts, in der Ferne, die Stimme des Wolfs ertönt. Es ist nicht der Wolf, der heult. Es ist der Bruder, der ruft, der fast vergessene Bruder, den der Hund verraten hat, als er des Fressens halber zum Menschen ging, um die Herden zu bewachen … Der Hund reißt an der Kette und kläfft. In seinem wütenden Gebell ist Haß, Furcht und ganz, ganz zu unterst Reue, Scham, Gewissensbisse und die längst mit Gewalt unterdrückte Sehnsucht nach der Freiheit, die der andre, der hungrige Vagabund, genießen darf. Zurück Sehnsucht! Weg Freiheit! Ich bewache die Hütte meines Herrn! Zweifle ja nicht an meiner satten Treue … Kein Haß ist so groß wie der des Haushundes gegen den Wolf.

Diese beiden haben gehandelt und haben gesiegt. Und sie wußten nicht, dass sie siegen würden – wieviel Lenins, wieviel Sinowjews sind vor 1914 als Emigranten verhungert, ungekannt untergegangen, in Sibirien erfroren! –, aber sie wußten, dass die Idee eines Tages siegen würde. Sie sind glücklich zu preisen: sie haben es erlebt.

Und weil diese Kommunisten es erlebt haben, weil sie die Ausbreitung ihrer Idee haben wollen – gegen die Sozialchauvinisten, die noch heute, dieselben Männer, die Partei weiter täuschen dürfen, über die Köpfe träumerischer Demokraten hinweg, die in dem Augenblick zurückschrecken, wo es ernst wird, und denen nachzugeben in manchen Gehirnen ›taktisch‹ heißt –: weil sie gesiegt haben und weiter siegen wollen, sollten sie einen, einen einzigen Fehler vermeiden.

Sie sollten uns besser kennen, wenn sie bei uns arbeiten und arbeiten lassen. Aber darüber ein andres Mal.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 13.04.1926, Nr. 15, S. 567.