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Berliner Gefängnisse

Man muß drin gesessen haben, um über sie schreiben zu können. Man muß diese Justizpflege am eigenen Leibe erfahren haben, um etwas Wirksames über sie aussagen zu können. Man darf sie nicht mit den Augen eines berichtenden Landgerichtsdirektors betrachten. Man muß sie von unten her sehen.

Hans Hyan tut das in einem Büchelchen »Berliner Gefängnisse«. (Verlag von Puttkammer u. Mühlbrecht, Berlin 1920.)

Die Strafen der deutschen Justiz sind keine Strafen. Strafe muß etwas sein, das in irgendeiner Beziehung und in irgendeinem Verhältnis zum Delikt steht. Strafe muß irgendeinen Zweck haben. Diese deutschen Strafen regnen auf dich herab wie die Hagelkörner, niemand weiß vorher, wie sie ausfallen werden, und niemand weiß, wen sie treffen. Man müßte einmal zusammenstellen, was man in Deutschland alles für sechs Monate Gefängnis begehen darf. Es kämen die erstaunlichsten Dinge zusammen. Und diese Strafen nützen auch nichts. Sie zerbrechen vielleicht den Menschen (wenn er wertvoll ist; der Zuhälter trägt diese Freiheitsunterbrechungen als Geschäftsrisiko und Betriebsspesen). Die Strafverhängung ist neben dem deutschen Militarismus der dunkelste Punkt dieses Landes. Eine vom Monarchismus und dem Klassenstaat gezüchtete Kaste fällt unbeirrbar auf Grund ihrer alten Weltanschauung die alten Urteile weiter, und niemand fällt ihr in den Arm. Aber das ist ein weites Feld. Die Strafvollstreckung liegt nun aber so im argen, dass sie jede, und sei es die kleinste wohltätige Wirkung der Rechtsprechung in ihr Gegenteil verkehrt. Ob der Richter bei uns unabhängig ist, steht dahin. Daß es der Exekutivbeamte sicherlich ist, scheint gewiß.

Hyan kennt seine Gefängniswelt. In Preußen ist doch das so: Wenn einer etwas ausgefressen hat und man klappt ihn dabei, so ist er von diesem Augenblick an rechtlich so gut wie vogelfrei. Die Kinder auf der Straße spielen Räuber und Gendarm, und das erste, was der Gendarm mit dem Räuber tut, ist, dass er ihn fürchterlich verhaut. Das ist dem Leben nicht schlecht abgelauscht, dem deutschen Leben, wo der Arrestant zu einer Menschengattung zweiten Stils heruntersinkt. Für das Publikum ist der Arretierte eine Art Kinderschreck, der vollkommen außerhalb des bürgerlichen Lebens steht. Für ihn gelten nicht Gesetz und Recht – während sie doch in Wirklichkeit gerade für ihn gemacht sind – und es verstärkt sich das alte Bild und die alte Vorstellung, dass der deutsche Gerichtssaal gewissermaßen die gute Stube darstellt und die Strafanstalten Küche und Kammer. Da unten aber ists fürchterlich …

Hyan beleuchtet das alles. Er erzählt von den einzelnen Gefängnissen Groß-Berlins: von Tegel, wo es für die Gefangenen noch nicht einmal Wasserklosetts gibt, von Plötzensee, wo die altertümliche Bauart des Hauses Mißhandlungen begünstigt, von Moabit, wo Preußen seine Untersuchungsgefangenen wie die letzten Canaillen behandelt und vor allem wie Schuldige behandelt, von Moabit, wo man die Strafrechtsmaschine klappern hört. Und alle, alle Staatsanwälte und Richter und Referendare und Assessoren: sie haben nur den einen Wunsch, den Armen schuldig werden zu lassen. Hyan erzählt vom Frauengefängnis in der Barnimstraße, von der Fürsorgestelle im Polizeipräsidium und vom wichtigsten Punkt des ganzen Gebietes: von der Beamtenschaft.

Er läßt dieser Beamtenschaft alle Gerechtigkeit widerfahren. Er bespricht ihre erbärmlichen Lohnverhältnisse, er weist ganz ausgezeichnet darauf hin, wie die »Beamtenwürde« ein Äquivalent für die mangelhafte Entlohnung war und ist, und die demokratische Republik arbeitet ja mit den lächerlichsten Chinesentiteln genauso weiter wie der alte kaiserliche Laden. Und vor allem sagt Hyan, dass diese alten Militäranwärter, diese sogenannten »Zwölfender« (so genannt nach der Zahl der Jahre, die sie bei den Preußen heruntergerissen hatten) – dass dieses Beamtenmaterial im großen und ganzen für seine Aufgabe ungeeignet ist. Eine militaristische Erziehung, die immer und überall nur Rangunterschiede sieht und sehen lehrt, ist nicht die Schule für einen der schwierigsten Berufe, die es überhaupt gibt. Das, was sich da bei diesem mangelhaften Gefängnisapparat, der in den Arbeitshäusern zum Skandal wird, herausgebildet hat, ist gar nichts anderes als eine Maschine zum Menschenschinden. Die jungen Studenten lernen allerhand Theorien über das Wesen der Strafe: sie könne Abschreckung sein oder Vergeltung oder Besserung. Sie ist in Wahrheit keins von den dreien. Die schönen Symbole, die, in Stein gehauen, die Fassaden der deutschen Gerichtshäuser zieren, sind Puppenkram und fauler Kulissenzauber. Die Strafe wird ausgesprochen von solchen, die sie nicht kennen, und vollstreckt von solchen, denen der Eingelieferte ein rechtloses Stück Vieh ist. Reglements helfen da gar nichts. Es kommt auf die Betrachtungsweise an.

Das Buch von Hans Hyan ist für jeden Kriminalforscher als Material wertvoll. Dicke gelehrte Wälzer tuns nicht; es sind die kleinen Züge, die Wert und Ausfall, Wirkung und Verlauf einer solchen Strafe bestimmen. Nach der Lektüre des Büchelchens kochen einem die Adern: oben wirft der Richter grau und stumpf lebendige Menschen in den Trichter einer ungeheuren Maschine – und gerädert, mit zermalmten Knochen, zerschlagen und seelisch zerprügelt, speit sie dieser fürchterliche Apparat wieder aus und überweist sie dem Verein zur Besserung entlassener Strafgefangener. Ihr erfahrt, wenn ihrs noch nicht wußtet, dass die dümmsten und widerwärtigsten Bestimmungen von den Disziplinarstrafen und von der Polizeiaufsicht heute noch bestehen, und dass dieses stumpfsinnige Paragraphenvolk lieber Tausende von Menschen unglücklich werden läßt, als dass es die schlimmsten Auswüchse der Strafjustiz beseitigt. Die bedächtigen Politiker mit dem demokratisch hängenden Hosenboden vertrösten uns auf die große Strafrechtsreform. Und inzwischen zuckt das und krümmt sich in den Dunkelarrestzellen deutscher Gefängnisse. Was kommts drauf an? Lumpen und Verbrecher, Diebe oder am Ende Kommunisten …

Die Zustandsschilderungen Hyans sind lesenswert, weil wir alle wissen wollen, auf welcher schönen Erde wir spazieren. Man kann hier viel ändern und reformieren und bessern. Im einzelnen. Letzten Endes aber wird eine großzügige Strafrechtsreform und damit eine Reform der Strafvollstreckung überhaupt erst möglich sein mit einer vollkommenen Umwälzung dieser faulen und morschen Welt: durch eine wahre Revolution.

Ignaz Wrobel
Freiheit, 25.07.1920.