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Erpressung

Wenn wieder einmal eine Kette jahrelanger Erpressungen – es muß nicht grade der Paragraph sein, den der Staat eigens für die Erpresser gemacht hat – durch einen Revolverschuß oder ein Gerichtsurteil abgeschnitten worden ist, dann fragt sich männiglich, warum das Opfer nicht zur Polizei gelaufen ist. Statt dessen hat man ihm sein Vermögen aus der Tasche geräubert – oder es hat, in den Tod gehetzt, ein weiteres Verfahren überflüssig gemacht. Ich möchte nicht wissen, wieviel von den vierzehntausend Selbstmorden jedes Jahres auf dieses Konto zu schreiben sind.

Also warum Tod, warum Ruin, warum Gerichtsverhandlungen erst nach jahrzehntelangen Qualen? Warum nicht gleich, beim ersten Erpressungsversuch?

Der Skandal. Was ist das? Das ist die schmutzigste Sensationsgier der Reporterpresse, der man nur mit den feinsten Tricks den vollen Namen der Opfer abjagen kann. Bei hochgestellten Persönlichkeiten, vom Fabrikbesitzer aufwärts, begnügt man sich mit dem Anfangsbuchstaben. Sonst wird das ganze Signalement durch den Schmutz der Gerichtsberichte gezogen, und diese Kriminalreportage scheint mir der weitaus schlimmste Teil eines deutschen Kriminalverfahrens zu sein. Verhör, Urteil, Strafe, alles, alles – nur nicht diese dummen, hämischen, schadenfrohen Glossen verschmockter Ignoranten.

Der Erpresser mag mit Enthüllung einer längst verjährten kleinen Haftstrafe drohen – man versteht, daß der Geängstigte Geld hergibt, um nicht als vorbestrafter Mann aus der Stellung zu fliegen. Der Erpresser mag das Liebesleben seines Mitmenschen auf die Kehrseite der Medaille untersuchen – man versteht, dass der Geschreckte alles, alles opfert, nur um nicht ausgestoßen zu werden, in eine widrige Kloake der Schande. Aber man versteht ganz und gar nicht, wie jeder beliebige Schuft mit dem Tiefstand einer neuigkeitslüsternen Presse operieren darf. Was heißt denn das: das Opfer fürchtet den Skandal? Einen Brief an den Vorgesetzten? Eine anonyme Schmähung an die Gemahlin? Ein paar Worte können den Sachverhalt aufklären, und das Ganze ist nicht gefährlicher als jede andre anonyme Lumperei.

Das, was die Leute vor dem leeren Geldschrank zum Revolver treibt, ist die wahnsinnige Angst: ob schuldlos oder nicht, von der Presse angefallen zu werden. Der Erpresser weiß genau, was er tut: natürlich wird ihm keine Zeitung glauben, wenn er den Kommerzienrat F. oder G. oder H. einer Schmutzerei beschuldigt. Also woraufhin wagt er es, zu erpressen? Feixend und seiner Sache sehr gewiß? Er wagts, weil er die ungeheuerliche Indiskretion einer schlechten Gerichtssaalberichterstattung kennt. Und wenn der Kommerzienrat F. tausendmal ohne Schuld und Fehler aus so einem Prozeß hervorgeht: ungenannt geht er nicht hervor. Der Erpresser ist bestraft worden und hat doch erreicht, was er wollte.

Wir wünschen um Gotteswillen keine Dunkelheit der Inquisition in unsern Strafkammern. Aber wir wollen ein selbstverständliches Taktgefühl, das einzusetzen hat beim Grünkramhändler und beim Major, bei einer kleinen Näherin und bei der Komtesse.

Wenn der Angeklagte in einem deutschen Gerichtssaal vorgeführt wird, dann mag er sich sagen, daß eine Hauptgefahr nicht der gefürchtete Staatsanwalt ist, nicht der Vorsitzende, nicht die Richter. Die Meute lauert anderswo. Sie hockt an langen Bänken, läßt die zitternden Federn spielen und wartet, wen sie zerreiße. Wehe dir: hier wird nichts geschont. Du wirst gesperrt gedruckt, du wirst fett gedruckt, und du wirst mit einem brühwarmen Schmutz übergossen. Der Gerichtssaalreporter ist kaum korrupt; er nimmt kein Geld, damit er schweige, oder damit er nenne. Korrupt ist die Presse, die den niedrigsten und schmierigsten Instinkten ihrer Leser so weit entgegenkommt, dass sie ihre Hunde auf die Jagd schickt. Und sogar die Etymologie wirds bestätigen: der Hauptbestandteil eines Erpressers ist die Presse.

Peter Panter
Die Schaubühne, 23.07.1914, Nr. 29, S. 69.