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Das Gebet für die Luftschiffer

Der liebe Gott wird sich schön wundern. Bis jetzt hat es jeden Sonntagmorgen antelefoniert, und eine Stimme hat gesagt: »Beschütze das königliche Kriegsheer und die gesamte deutsche Kriegsmacht zu Lande und zu Wasser.« – »Ach so, Preußen!« hat dann der liebe Gott gesagt und hat abgehängt. Aber nachdem nunmehr der Generalsynodalvorstand die Dringlichkeit einer königlichen Verordnung anerkannt hat, wird der liebe Gott wieder aufhorchen. Denn nun heißt es: » … gesamte deutsche Kriegsmacht zu Lande und zu Wasser, insonderheit die Schiffe und die Luftfahrzeuge, welche auf der Fahrt sind.« – »Insonderheit«, wird der liebe Gott sagen, »ist kein deutsches Wort. So was schreibt man nicht einmal, geschweige denn betet man es. Aber meine lieben Preußen da unten haben so bürokratische Vorbeter, da bin ich dergleichen gewohnt.« Und wird wieder abhängen.

In der Tat: die Religion schreitet doch vorwärts. Man kann ja nicht gerade sagen, dass dieser verwaschene Protestantismus die sozialen Probleme der Gegenwart aufgegriffen und fortentwickelt habe, man kann gerade nicht behaupten, dass sich die Diener am Wort Christi mit den Armen, für die sie doch laut Bibeltext in erster Linie da sein sollen, besonders gut stehen. Das ist es eigentlich alles nicht. Aber die Religion geht doch mit der Technik mit, und das ist auch schon eine ganze Menge. Die Macht des Gebetes ist nie lächerlicher und grotesker illustriert worden als hier, da vom Sonntag den soundsovielten ab nun auch die Luftschiffer der göttlichen Gnade und des himmlischen Schutzes teilhaftig werden. Es geht ihnen bestimmt vorher genau so schlecht und so gut wie nachher, aber das macht nichts. Man konnte nunmehr die Luftschiffahrt vor dem lieben Gott nicht mehr verheimlichen, denn der hat schon längst danach gefragt, was da immer explodiert, und hat sich nur gewundert, wenns einmal kein Zeppelin war. Nunmehr hat er auch amtlich von der neuen Erfindung Kenntnis, und man kann wohl den deutschen Luftschiffern herzlich kondolieren.

Für uns betet eigentlich niemand beim lieben Gott. Und ich kann mir nicht helfen: ich habe das leise Gefühl, als obs uns gerade deshalb so gut ginge.

anonym
Vorwärts, 10.05.1914.