Zum Hauptinhalt springen

Die Aufpasser

Wenn ich aus meinem Fenster sehe, so erblicke ich drüben auf der anderen Straßenseite die ziegelrote Front einer berliner Gemeindeschule. Im Sommer, und wenn es warm ist, auch im Frühling – dann machen wir beide, die Gemeindeschule und ich, unsere Fenster auf. Ich höre dann so, wie dreiundfünfzig Kinderkehlen versichern, dass sie preußisch seien und auch preußisch sein wollten, und ich höre, wie man den ganzen Tag ununterbrochen zum lieben Gott Choräle hinaufschickt, so dass der alte Mann beinahe glauben muß, Preußen sei wirklich eine große Kinderstube.

Aber am ergötzlichsten ist es doch um 10 Uhr und um 11 Uhr, kurz, immer dann, wenn drüben gerade die Pause zu Ende gegangen ist. Dann warten die Klassen auf den Eintritt der Lehrer und Lehrerinnen, und wenn fünfzig Kinder in einer Stube sitzen, dann geht es natürlich nicht leise zu. Und da ist eine Klasse, sie wohnt gleich hinter den ersten Fenstern links in der zweiten Etage. Da sitzen lauter kleine Mädchen drin und machen einen Heidenspektakel, bis der Herr Lehrer hereinkommt oder das Fräulein Lehrerin, um ihnen das große Einmaleins und die kleinen Näharbeiten beizubringen. Und weil doch nun alles auf der Welt seine Ordnung haben muß, so hat man über das unruhige Gewimmel ein paar Aufpasser gesetzt, vielleicht sind es die Ersten der Klasse, und die müssen nun vorn auf dem Podium stehen und müssen aufpassen, dass niemand laut ist.

Und es ist nun ganz merkwürdig, aber um diese Zeit, um 10 Uhr oder um 11 Uhr, höre ich kaum etwas von der unruhigen Klasse, sondern immer nur zwei helle, kreischende Stimmen, es sind immer dieselben, und ich kenne sie schon, und sie schreien: »Ruhig! Wollt ihr wohl ruhig sein! Ihr sollt stille sein! Stille! Ruhig l« Und von der ganzen Klasse höre ich nichts als dies: Ruhe! Stille! Die anderen sind wirklich stumm und rühren sich nicht mehr, und nur die Aufpasserinnen wittern immer noch Rebellen und ersuchen im höchsten Sopran um anständiges Benehmen …

Was aber die deutsche Politik angeht, so will ich nichts gesagt haben.

anonym
Vorwärts, 17.03.1914.