§ 83. Spinozas Leben und intellektueller Charakter


Benedikt v. Spinoza wurde den 24. November 1632 zu Amsterdam geboren. Als ein Jude seiner Abkunft nach hatte er in seiner Jugend das Hebräische erlernt und mit vielem Fleiße die Bibel und den Talmud studiert. Aber es dauerte nicht lange, so vertauschte er das Studium der Theologie, zu diesem Schritte durch die Kenntnis der lateinischen Sprache, die er mit besonderer Liebe erlernt hatte, hinlänglich befähigt, mit dem der Physik und der Werke des Cartesius und trennte sich zugleich, wie er sich in seinem freien Geiste von der israelitischen Religion lossagte, auch äußerlich, weil ihm alle Heuchelei zuwider war, von seiner Gemeinde ab vermied den Besuch der Synagogen und den Umgang mit den jüdischen Lehrern. Deswegen wurden die Juden aufs heftigste über ihn erbittert; denn sie hatten in ihm eine kräftige Stütze ihrer Synagoge einst zu finden gehofft und befürchteten, er möchte die christliche Religion annehmen, wiewohl ohne Grund; denn ob er gleich alle Gemeinschaft mit ihnen abbrach, so trat er doch nie zum Christentum über.

Um sich den Verfolgungen der Juden, die ihm sogar nach dem Leben strebten und ihn endlich, als sie sahen, daß alle ihre Versprechungen und Versuche, ihn an sich zu fesseln, fruchtlos waren, exkommunizierten, zu entziehen und seinen philosophischen Studien ungestört obliegen zu können, verließ er Amsterdam und begab sich zunächst auf das Land in der Nähe dieser Stadt, dann nach Rhynsburg unweit Leiden, hierauf nach Voorburg in der Nähe vom Haag, endlich auf Zureden einiger Freunde nach dem Haag selbst. Aber auch hier wie an seinen frühern Aufenthaltsorten lebte Spinoza, einzig mit wissenschaftlichen Arbeiten und der Verfertigung optischer Gläser, wodurch er sich seinen Lebensunterhalt verschaffte, beschäftigt, in größter Eingezogenheit, in philosophischer Ruhe und Unabhängigkeit.

So zurückgezogen aber und einfach Spinoza als Privatmann lebte, so berühmt war er als Schriftsteller schon bei Lebzeiten durch die Herausgabe einiger seiner Werke geworden. Der Segen oder, wenn man lieber will, »der Fluch der Zelebrität« blieb daher auch bei ihm nicht aus. Viele Wißund Neugierige, darunter auch viele sowohl durch Rang und Geburt als durch Gelehrsamkeit ausgezeichnete Personen suchten ihn auf oder knüpften einen Briefwechsel mit ihm an, um ihn kennenzulernen oder sich in betreff sowohl politischer als philosophischer Gegenstände von ihm belehren zu lassen. Der Kurfürst von der Pfalz, Karl Ludwig, ließ ihm selbst von freien Stücken durch Ludwig Fabricius eine Professur der Philosophie in Heidelberg antragen. Aber Spinoza nahm sie aus weisen Gründen nicht an. »Nam cogito primo«, sagt Spinoza, »me a promovenda Philosophia cessare, si instituendae juventuti vacare velim. Cogito deinde, me nescire, quibus limitibus libertas ista philosophandi (die ihm nämlich versprochen wurde) intercludi debeat, ne videar publice stabilitam Religionem perturbare velle: quippe schismata non tam ex ardenti Religionis studio oriuntur, quam ex vario hominum affectu vel contradicendi studio, quo omnia etsi recte dicta sint, depravare et damnare solent. Atque haec, cum jam expertus sim, dum vitam privatam et solitariam ago, multo magis timenda erunt, postquam ad hunc dignitatis gradum adscendero.« (»Epist.« 54) Ungeachtet der strengen und mäßigen Lebensart, die Spinoza ebensowohl aus Rücksicht für seine Gesundheit — denn er hatte einen schwachen, ungesunden, schon seit mehr als 20 Jahren von der Schwindsucht angegriffenen Körper — als aus eignem Antriebe führte — denn er war von Natur nüchtern, mit wenigem zufrieden, Herr seiner Leiedenschaften, nie unmäßig traurig oder fröhlich , starb er doch schon 1677, den 21. Febr., oder, nach dem Ausspruch eines christlichen Orthodoxen, »impuram animam et extremum spiritum placide efflavit. Qualis obitus an Atheo competere possit, in disceptationem ab eruditis non ita pridem vocatum est«.150

Spinozas Schriften erschienen in folgender Ordnung: 1663 »Renati des Cartes Principiorum Philosophiae Pars I et II more geometrico demonstratae per B. de Spinoza Accesserunt ejusdem Cogitata Metaphysica etc.«151), in denen aber auch noch nicht seine eigentümlichen philosophischen Prinzipien niedergelegt sind; 1670 sein »Tractatus theologicopoliticus«, deswegen besonders merkwürdig, weil er die erste gründlichere rationelle Kritik der Bibel enthält; in seinem Todesjahre 1677 sein wichtigstes philosophisches Werk, die »Ethica, ordine geometrico demonstrata et in quinque Partes distincta, in quibus agitur 1. de Deo, 2. de Natura et Origine Mentis, 3. de Origine et Natura Affectuum, 4. de Servitute humana seu de Affectuum viribus, 5. de Potentia Intellectus seu de Libertate humana«. Spinoza wollte seine Ethik wahrscheinlich noch bei Lebzeiten selbst herausgeben, aber das gehässige Gerücht, daß er ein Atheist sei, hat ihn wohl davon abgehalten. Sein Freund Ludwig Mayer gab sie jedoch seinem Willen gemäß ohne seinen Namen in den »Opera Posthuma« von Spinoza heraus, die außerdem noch den vortrefflichen »Tractatum de Emendatione Intellectus«, leider ein Fragment, seinen gleichfalls unvollendeten »Tractatum Politicum«, worin Spinoza wie Hobbes dem status civilis einen statum naturalem voransetzt, in welchem die Menschen in einem feindlichen Verhältnisse zueinander stehen, jedes Individuum nur soviel Recht hat, als es Macht und Kraft zu existieren und wirken hat, die Grenze des positiven Naturvermögens auch die Grenze des Rechts ist — eine Bestimmung, die es auch im statu civili behält , aber keineswegs wie H. die unumschränkte Monarchie für die beste und zweckmäßigste Staatsform hält (c. 6. de Monarch., § 4-8, und c. 7, § 30)152); ferner eine Sammlung höchst interessanter Briefe (»Epistolae et Auctoris Responsiones«) und einen gleichfalls unvollständigen Abriß einer hebräischen Grammatik enthalten. Eine ganz vollständige Ausgabe von Spinozas Werken, denen noch überdies die Lebensbeschreibung von Colerus und andere sein Leben, seine Schriften und seinen Charakter betreffende Nachrichten und Bemerkungen beigefügt sind, ist bekanntlich die von Paulus. Neuere minder vollständige Ausgaben sind die von Gfrörer, Bruder, Riedel, die jedoch nur die »Ethik«, den »Traktat von der Verbesserung des Verstandes« und den »Politischen Traktat« enthält.

Spinoza fand aus sehr begreiflichen und natürlichen Gründen zu seiner Zeit wenige Freunde, die in seine Gedanken eingingen und sie zu den ihrigen machten, unter ihnen besonders den schon genannten Ludwig Mayer, den Grafen von Boulainvilliers, A. J. Cufaeler [Cufeller], den Arzt Lucas, aber desto mehr Feinde und Bestreiter, sogenannte Widerleger, wie z.B. Christ. Wittich, Peter Poiret, Christ. Kortholt etc., derer zu geschweigen, die ihn gelegentlich oder in besondern Artikeln bekämpften. Eine von den frühern rohen Mißverständnissen gereinigte, in mehrfacher Hinsicht treffliche Darstellung von Spinoza gab bekanntlich Fr. H. Jacobi. Auch Herder verbreitete für seine Zeit ein besseres Licht über ihn. Vortreffliche Gedanken über ihn finden sich bei Lessing und Hegel.153) Ausführlichere Notizen über die Spinoza betreffende Literatur suche man in Erdmanns »Geschichte der neuern Philosophie« (I. Bd., II. Abt.) und Riedels »R. de Cartes« und »B. de Spinoza praecipua opera philosophica«, Lipsiae 1843, Vol. II, 277-280.

Der Charakter, die intellektuelle Persönlichkeit eines Philosophen ist in seiner ganzen Philosophie enthalten. Diese ist nicht ein oberflächlicher Abdruck von ihr, sie ist ihr positives, ihr lebendiges, adäquates Dasein. Wenn von irgendeinem Philosophen, so gilt dies von Spinoza, diesem so erhabnen, so gedankenhellen, so ganz mit dem Geist und Objekt seiner Philosophie identischen Charakter. Wer aber noch ein besonderes Faksimile von der Schöpferhand seines Geistes haben will, um desto besser seine geistige Persönlichkeit zu erkennen, der mag sie in der erhabnen Art und Weise finden, wie er über den Menschen urteilt, wie er ihn mit seinen Fehlern und Leidenschaften zum Gegenstande seiner Betrachtung und Untersuchung macht. Um die Gegenstände der Politik, sagt er, mit derselben Geistesfreiheit zu erforschen, mit welcher wir die Gegenstände der Mathematik zu untersuchen pflegen, habe ich mich sorgfältig bestrebt, die menschlichen Handlungen nicht zu belachen, nicht zu beklagen noch zu verabscheuen, sondern zu erkennen, und ich habe daher die menschlichen Affekte wie Liebe, Haß, Neid, Ehrsucht, Mitleid und die übrigen Gemütsbewegungen nicht als Fehler, sondern als Eigenschaften der menschlichen Natur betrachtet, welche ebenso zu ihr gehören wie zur Natur der Luft Hitze, Kälte, Wetter, Donner und andre dergleichen Erscheinungen, welche, obgleich unbequem, doch notwendig sind und bestimmte Ursachen haben, durch die wir ihr Wesen zu erkennen suchen und an deren Betrachtung der Geist sich ebenso als an der Erkenntnis der den Sinnen angenehmen Dinge ergötzt. (»Tract. Polit.«, c. 1, § 4) Die menschlichen Handlungen und Begierden betrachte ich gerade so, als wenn es sich um Linien, Flächen und Körper handelte. (»Ethices« P. III, Praef.)

 

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150) Sebastian Kortholt in seiner Praefatio zu: Christiani Kortholdi etc. »De Tribus lmpostoribus Magnis Liber denuo editus cura S. K«, Hamb. 1701.

151) Über die Veranlassung dieses Werkes vergl. die Vorrede dazu von Ludwig Mayer und »Epist.« 9.

152) Als die natürlichste und der Freiheit, welche die Natur einem jeden einräumt, sich am meisten annähernde, folglich dem Zweck des Staates, welcher die Freiheit ist (c. 20), entsprechende Regierungsform bestimmt vielmehr Spinoza in seinem »Tract. Theol.pol.« (c. 16) die Demokratie. In der Demokratie, sagt er ebendaselbst, sind weniger als in irgendeiner Staatsform Absurditäten zu befürchten, »in democratico imperio minus timenda sunt absurda«. Das Geheimnis der Monarchie, sagt er in der Vorrede, besteht darin, die Menschen zu betrügen und unter dem Deckmantel der Religion in Furcht zu erhalten, damit sie für die Knechtschaft, als gälte es ihr Heil, kämpfen und es nicht für Schande, sondern vielmehr für die höchste Ehre halten, ihr Blut für die Prahlerei eines Menschen zu verschwenden. Der Friede, der in den Monarchien herrscht, sagt er in den oben zitierten Stellen, und den man uns so sehr anpreist, ist nur der Friede der Knechtschaft. Zwischen Eltern und Kindern finden heftigere Streitigkeiten statt als zwischen Herren und Sklaven. Friede besteht nicht in der Abwesenheit des Kriegs, sondern in der Eintracht der Gemüter. Der Monarch fürchtet aber mehr die Bürger als die Feinde. »Je suis bon Républicain«, sagte einst Sp. nach Colers Erzählung.

153) Folgende merkwürdige Stelle Lichtenbergs möge hier einen Platz finden, weil in ihr Spinozas auf eine auffallende Weise gedacht ist. »Wenn nur der Scheidepunkt erst überschritten wäre! Mein Gott, wie verlangt mich nach dem Augenblick, wo die Zeit für mich aufhören wird, Zeit zu sein, wo mich der Schoß des mütterlichen Alles und Nichts wieder aufnehmen wird, in dem ich damals schlief, als der Heinberg (ein Berg bei Göttingen) angespült wurde, als Epikur, Cäsar, Lukrez lebten und schrieben und Spinoza den größten Gedanken dachte, der noch in eines Menschen Kopf gekommen ist.« Vermischte Schriften, Bd II, Göttingen 1801.


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