§ 92. Übergang zur Einheit des Geistes und Körpers


Da Gott nach Spinoza die einzige Substanz ist, die ist und gedacht werden kann, und alle Dinge in Gott, Denken und Ausdehnung aber die Attribute Gottes sind, die, jedes in seiner Art, unendliches und ewiges Wesen von ihm ausdrücken, so drücken folglich alle einzelnen Dinge, die endlichen Modi der Attribute, Denken und Ausdehnung zugleich aus, oder alle einzelne Dinge müssen ebensowohl in dem Attribut der Ausdehnung als dem Attribut des Denkens begriffen werden. Alle Dinge drücken auf eine bestimmte und gewisse Weise die Substanz, also Denken und Ausdehnung zugleich aus, d.h., alle Dinge sind, wenngleich in verschiedenen Graden beseelt, Leib und Seele zugleich; denn die Seele ist nichts weiter als ein Modus, eine bestimmte Art des Denkens. »Omnia, quamvis diversis gradibus, animata tamen sunt.« (»Eth.«, P. II, Pr. 13, Schol.) Da aber das Denken und die Ausdehnung, obwohl voneinander unterschieden, doch keinen Unterschied in die Substanz selbst bringen, sie vielmehr die absolute Indifferenz dieser Unterschiede ist, da es immer nur eine und dieselbe Substanz ist, sie mag nun unter dem Attribut der Ausdehnung oder des Denkens gedacht werden, beide nur Formen sind, die eine und dieselbe Sache, einen und denselben Inhalt enthalten, so drücken auch die endlichen Modi als Leib und Seele nur eine und dieselbe Sache aus, so ist es auch nur eine und dieselbe Sache, die jetzt von der Seite oder unter der Form der Ausdehnung betrachtet wird und dann Laib heißt, jetzt von der Seite oder unter der Form des Denkens betrachtet wird und dann Seele heißt. Die Seele ist nicht eine besondere Substanz für sich, ebensowenig der Leib; im Gegenteil, die Substanz beider ist eine und dieselbe; ob ich sie als Ausdehnung, d. i. als Leib, betrachte oder als Seele, ist ganz eins; ich habe immer dasselbe.

Die Seele ist nichts anders als der direkte, der unmittelbare d. i. mit der Existenz; des Leibes identische, sein Sein unmittelbar bejahende und in sich schließende Begriff (Idee oder Bewußtsein) ihres Leibes; was der Leib formaliter, eigentlich, wirklich ist, das ist die Seele objektiv, d. i. in der Weise des Denkens, oder was der Leib in der Form der Ausdehnung ist, das ist die Seele in der Form des Denkens; die Sache, die der Leib als Ausgedehntes ist, dieselbe Sache ist die Seele als Denkendes, oder wie Lessing es etwas kühn ausdrückt: »Die Seele ist nichts als der sich denkende Körper und der Körper nichts als die sich ausdehnende Seele.«168) Aber eben deswegen, weil Denken und Ausdehnung unterschieden sind, gleichwohl aber jedes in seiner Art einen und denselben Inhalt, die eine Sache, die Substanz, ausdrücken, so kann und darf das Denken nur durch die Ausdehnung, die Ausdehnung nur durch das Denken bestimmt werden; und es haben daher auch die Modi eines jeden Attributs Gott zur Ursache nur, inwiefern er unter diesem Attribute dessen Modi sie sind, aber nicht wiefern er unter einem andern Attribut gedacht wird. Die Bestimmungen der Ausdehnung haben also Gott nur als ein ausgedehntes Wesen, die Bestimmungen des Denkens nur als ein denkendes Wesen zu ihrer Ursache; die Seele und ihre Bestimmungen können nicht aus der Materie oder Ausdehnung und diese wiederum nicht aus jener abgeleitet werden. Und sie können eben deswegen nicht gegenseitig voneinander bestimmt oder abgeleitet werden, weil jedes in seiner Art absolut, vollkommen ist, dieselbe Sache, die Substanz, jedes in seiner Weise ausdrückt.

 

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168) In seinem Traktat »De Intell. Emend.« (p. 447, ed. Paulus) sagt Spinoza, daß die Seele nach gewissen Gesetzten handle und gleichsam ein geistiges Automat sei.


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