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Jacob Voorhoeve Homöopathie in der Praxis I. Darstellung der Grundsätze und Lehren der Homöopathie

X. Abschnitt.
Die Macht des Kleinen

"In 't kleine sluimert dikwijls reuzenkracht!

Veel is eeuwig waar, ofschoon 'tbewijs niet daar is." 1)

(De Génestet.)

 

Der große Stein des Anstoßes sind die kleinen Arzneigaben der Homöopathie, die "Nichtse," wie sie von den Allopathen genannt werden. Manchem Anhänger der Homöopathie mag es bange werden, wenn ihm ein Spötter mit dem beliebten Einwand kommt, daß ein homöopathisches Mittel ungefähr soviel wirksame Bestandteile enthält, wie ein Löffel Rheinwasser bei Köln enthalten würde, wenn man am Rheinfall bei Schaffhausen einen Tropfen Arznei in den Fluß geschüttet hätte! Andere Spötter suchen ihre Zuhörer schwindlig zu machen mit Vergleichungen der homöopathischen Arzneigaben mit Sirius-Abständen oder Uranus-Bahnen! Derartige Scheinbeweise beruhen entweder auf Unwissenheit oder auf Böswilligkeit.

Laßt uns demgegenüber feststellen, daß die Arzneigaben der Homöopathie zwar klein, und gewiss viel kleiner als die gebräuchlichen allopathischen Gaben, aber doch wiederum nicht so klein sind, daß von der Anwesenheit eines wirksamen Stoffes keine Rede mehr sein kann. Die überwiegende Mehrheit aller homöopathischen Ärzte der ganzen Welt bedient sich in den meisten Krankheitsfällen der 3ten bis zur 6ten Dezimalpotenz, d. h. einer Arzneibereitung, welche ein Tausendstel bis ein Millionstel des ursprünglichen heilkräftigen Stoffes enthält. Auch höhere Verdünnungen werden verwendet und müssen in bestimmten Fällen verwendet werden, da es sich gezeigt hat, daß gewisse in unverteiltem Zustande gänzlich unwirksame Stoffe, wie z. B. Kalk, Holzkohle, Kieselsäure u. s. w. erst durch oft wiederholte Verreibung mit Milchzucker heilkräftig werden. Bis zu einem gewissen Grade werden diese Stoffe durch wiederholte Verdünnung deshalb wirksamer, weil sie dadurch wesentlich an wirksamer Oberfläche gewinnen und auch leichter resorbiert werden. Wie weit man nun gehen soll oder gehen darf in der Verdünnung und Verreibung der einzelnen Arzneistoffe, kann lediglich durch die Erfahrung am Krankenbette entschieden werden, und darin sind sich die Homöopathen im allgemeinen einig, daß der ausschließliche Gebrauch der 30ten Potenz, welche von Hahnemann in seinen letzten Lebensjahren eingeführt wurde, während er in jüngeren Jahren die niedrigeren Potenzen benutzte, nicht zu empfehlen ist. Die einzige Bedingung, welche gestellt werden darf und soll, ist diese: daß diejenige Verdünnung oder Verreibung verwendet werde, welche, ohne zu schaden, noch eine deutlich wahrzunehmende Wirkung auf den kranken Körper auszuüben imstande ist.

Daß solches durch sehr kleine Arzneimengen geschehen kann, steht außer Frage. Die Mitteilungen aus allen homöopathischen Kliniken und Krankenhäusern verbürgen es uns. Jedoch nicht nur Krankengeschichten legen Zeugnis ab von der Kraft kleiner Stoffmengen; auch auf dem Gebiete der Physik, Chemie, Tier- und Pflanzenkunde finden wir Beispiele genug für die Macht des Kleinen.

Wenn wir dem Leser aus dem Gebiete der Naturwissenschaften durch allgemein anerkannte Tatsachen den Beweis liefern, daß unglaublich kleine Stoffmengen deutlich wahrzunehmende Wirkungen hervorrufen können, wird er eher geneigt sein, die Möglichkeit der Wirkung homöopathischer Verdünnungen zuzugeben und nicht länger geringschätzend oder gar spöttisch über eine Heilweise urteilen, welche von Tausenden ernsten und nüchternen Männern in der ganzen Welt ausgeübt wird. Nun, es wird uns nicht schwer fallen, die Macht des Kleinen aus den Entdeckungen und Untersuchungen der Naturforscher der neuesten Zeit zu zeigen.

Darwin hat gewiß den Ruf eines großen Gelehrten und ausgezeichneten Beobachters. Er hat ein Werk geschrieben über die insektenfressenden Pflanzen. Er beschreibt darin eine Pflanze, "Sonnentau" genannt. (Drosera rotundifolia, woraus zufällig auch eine in der Homöopathie gebräuchliche Tinktur bereitet wird.) Die Blättchen dieser Pflanze sind mit kleinen Haaren dicht besetzt. Jedes Härchen hat ein Drüschen, welches einen klebrigen Saft absondert. Setzt sich nun ein kleines Insekt auf ein solches Blatt, dann bleibt es daran kleben, bald fängt das Blatt an sich zusam­menzurollen, die Drüschen sondern den Saft ab, welcher imstande ist Fleisch zu verdauen, und so wird das Insekt von der Pflanze förmlich verzehrt. Darwin hat nun untersucht, welche Stoffe imstande sind, die Drüschen dieser Pflanze zur Absonderung des Verdauungssaftes zu reizen. Als einen solchen Stoff fand er u.a. das phosphorsaure Ammoniak und machte die weitere Entdeckung, daß dieser chemische Stoff in einer Verdünnung von 1 auf 20.000.000 (also ungefähr in der 7ten homöopathischen Dezimalverdünnung) noch fähig ist, die Drüschen zur Absonderung des genannten Saftes zu reizen. In einem Briefe an Prof. Donders, worin Darwin diese merkwürdige Tatsache mitteilt, sagt er: "Der Gedanke, daß ich solch eine Tatsache feststellen muß, macht mich unglücklich." Ja! wo würde die Homöopathie sein, wenn Hahnemann zu ängstlich gewesen wäre, eine Wahrheit, die zwar gegen die herrschende Meinung verstieß, aber experimentell erwiesen war, auch öffentlich zu verkünden?

Prof. Schulz in Greifswald, unsern Lesern bereits bekannt, hat Versuche über die Wirkung des Sublimats, eines für Mikroorganismen, u. a. auch für die Hefezellen tödlichen Giftes angestellt. In einer Verdünnung von 1 auf 20.000 hemmte Sublimat das Wachstum der Hefezellen in einer Traubenzuckerlösung, in höherer Verdünnung, 1 auf 500.000 fand er das Gegenteil der ersten Wirkung: das Sublimat förderte in dieser Verdünnung das Wachstum der Hefezellen. Sie vermehrten sich rascher in dieser hohen Sublimatverdünnung, als wenn der Nährflüssigkeit überhaupt kein Sublimat beigefügt wurde. Gewiß eine merkwürdige Bestätigung der Wirkung homöopathischer Arznei­verdünnungen und der scheinbar so wunderbaren Erfahrung, daß große Mengen einer Arznei oft genau das Gegenteil sehr kleiner Mengen bewirken! Prof. Schulz hat auf direkte und indirekte Weise den Beweis für die Kraft der homöopathischen Arzneipotenzen und die Wahrheit des Ähnlichkeits-Prinzips geliefert. Unsere Erfahrungen am Krankenbette liefern uns weitere Beweise. Sublimat in großen Gaben verursacht beim Gesunden Krankheitserscheinungen, welche denen der Ruhr sehr ähnlich sind und heilt in kleinen Gaben den Kranken, welcher an Ruhr leidet.

Die Experimente, welche Prof. Schulz angestellt hat, sind nicht widerlegt! Das ist auch nicht möglich, aber sie werden totgeschwiegen! Das ist leichter! Übrigens sind diese Versuche in der allerletzten Zeit von Löw bestätigt, welcher fand, daß Uransalze in einer 0.05 % Lösung auf junge Erbsenpflanzen vergiftend wirken, aber in einer Verdünnung von 1 auf 20.000, also in ungefähr einer 4ten homöopathischen Dezimalverdünnung, das Wachstum der Pflanzen fördern. Noch wichtiger sind für uns Homöopathen die Versuche des französischen Gelehrten Coupin, welcher die Wirkung der Kupfersalze auf das Pflanzenwachstum untersucht hat. Er fand, daß diese Salze das Wachstum der Pflanzenwurzeln äußerst schädlich beeinflussen und dies nicht nur in starken Lösungen, sondern sogar noch in einer Verdünnung von 1 auf 700.000.000, also in einer Lösung, welche ungefähr einer 9ten homöopathischen Dezimal­verdünnung gleich kommt. Wir sind dankbar, daß ein gelehrter Botaniker auf unwiderlegliche Weise bewiesen hat, daß eine 9te homöopathische Potenz doch noch etwas anderes ist als destilliertes Wasser oder verdünnter Weingeist!

Es würde uns zu weit führen, wenn wir die äußerst interessanten Experimente Prof. Ostwalds besprechen wollten, welcher die wirksamen Bestandteile vieler Stoffe noch in der 8ten bis 10ten Dezimalverdünnung mittels Kristallisationsversuche deutlich nachweisen konnte, ebenso fehlt uns der Raum, noch viele andere naturwissenschaftliche Untersuchungen, welche alle den Beweis liefern für die Wirksamkeit kleiner Stoffmengen, auch nur zu erwähnen. Wir wollen nur noch auf die neueste Entdeckung der Wissenschaft, das Radium, kurz hinweisen. Dieses moderne Element, von dem französischen Gelehrten-Ehepaare Curie entdeckt, besitzt merkwürdige Eigenschaften. Es ist ein leuchtender Stoff; kein Stoff, welcher tagsüber Licht in sich aufnimmt und während der Nacht wieder abgibt; auch kein Stoff, welcher, wie es bei gewissen Fischen, Glühwürmern, Infusorien der Fall ist, durch einen chemischen Prozeß, welcher im Innern ihres Organismus stattfindet, leuchtend wird, sondern ein Stoff, welcher leuchtet, auch wenn er monatelang von jedem Lichtquell abgeschlossen ist, ein Stoff, der Lichtstrahlen abgibt, welche nicht auf Schwingungen des Weltäthers, sondern auf das Aussenden von unglaublich kleinen Teilchen, welche durch Berührung mit anderen Stoffen zu glühen anfangen, zurückzuführen sind. Diese Strahlen sind so stark, daß ein Radiumpräparat in einer Sekunde ein photographisches Bild entstehen lassen kann. Diese Strahlen verursachen Hautverbrennungen, vernichten Haare und bösartige Geschwülste. Sie beruhen also auf einer stofflichen Ausstrahlung wirksamer Bestandteile. Der Stoff, welcher solche Strahlen abgibt, muß sich selbst verzehren, allmählich abnehmen. Was ist nun der Fall? Sogar mit den feinsten Wagen hat man an einem Radiumpräparat selbst nach monatelanger Wirksamkeit nicht die geringste Gewichtsabnahme feststellen können! Die theoretische Erklärung dieser wunderbaren Tatsache ist noch nicht gefunden, aber die Tatsache selbst ist unbestritten und ein neuer glänzender Beweis für die Macht des Kleinen!

 

"Ins Innre der Natur

Dringt kein erschaffner Geist,

Glückselig, wem sie nur

Die äuß're Schale weist."

(Goethe.)

 

 

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1) Im Kleinen schlummert oft Riesenkraft!

Vieles ist ewig wahr, obschon kein Beweis dafür da ist!



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