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23) Krankheit der Atmosphäre

Vor 20 Jahren schrieb der unsterbliche Hufeland zur Zeit, als man sich besonders mit den Untersuchungen über die Kontagiosität des gelben Fiebers, welches damals in Spanien herrschte, beschäftigte, folgende kleine, lesenswerte, aus dem Journal der praktischen Heilkunde besonders abgedruckte Schrift: „Atmosphärische Krankheiten und atmosphärische Ansteckung, Unterschied von Epidemie, Kontagion und Infektion“ (Berlin 1823). Das Verhältnis der Atmosphäre zum organischen Leben, was allein uns über ihr eigenes inneres Leben Aufschluss geben kann, verdient, nach ihm, vorzüglich unsere Aufmerksamkeit. Hier gibt es aber noch viele Punkte, die einer tiefern Forschung würdig und bedürftig sind. Dahin rechnet er auch das, was er Krankheit der Atmosphäre nennt, d. i. eine fehlerhafte Beschaffenheit des Innern der Atmosphäre selbst, welche, oft ohne alle sinnlich bemerkbaren Veränderungen derselben, eine so bestimmte Form und Qualität, ja ein so produktives inneres Leben hat, dass sie dasselbe in eben dieser bestimmten Form, Qualität, selbst Lokalität, den menschlichen, tierischen, ja selbst vegetabilischen Organismen mitteilen, d. h. dieselben mit einer bestimmten Krankheit anstecken kann. Hierauf beruht die ganze hochwichtige Lehre der epidemischen Krankheiten. Bei näherer Betrachtung des atmosphärischen Krankheitszustandes sind verschiedene Gradationen und Modifikationen zu unterscheiden; als:

a) Das eine Mal ist er nur Krankheitsanlage, wo er den organischen Körpern auch nur die Disposition zu gewissen Krankheiten mitteilt, ohne sie unwiderstehlich unter die Gewalt einer bestimmten Form zu zwingen. Dahin gehört das, was man herrschende Konstitution, herrschenden Genius der Krankheiten nennt, welche im kleinen Zyklus mit den Jahreszeiten (Constitutio annua), im größeren oft ein, ja mehrere Jahre lang fortbesteht (Constitutio stationaria). So kann bald eine entzündliche, bald eine nervöse, schleimige, gallige etc. Krankheitskonstitution vorherrschen und darnach bei ein und derselben Krankheit, weil der Charakter derselben variiert, nach dem verschiedenen herrschenden Krankheitsgenius, eine verschiedene Heilmethode erfordern.

b) Zuweilen aber steigert sich diese fehlerhafte Beschaffenheit des atmosphärischen Lebens zu einer wirklichen Krankheit mit bestimmter Form und Lokalität, und erregt im organischen Leben das, was wir wirkliche Epidemie, Seuche nennen. Nach der Erfahrung können durch rein atmosphärische Gewalt epidemische Fieber von neuer Form, bestimmtem Verlauf, Charakter und Örtlichkeit, ja eigentümlichen Krisen hervortreten, so dass einzelne Organe und Systeme epidemisch ergriffen werden, z. B. die Lungen (epidemische Lungenentzündung), die Leber (epidemisches Gallenfieber, Gelbsucht), der Darmkanal (epidemische Ruhr, Cholera), der Hals (epidemische Bräune), die Augen, das Gehirn (epidemische Hirnentzündung, Schlagfluss), das Drüsensystem, die Haut (epidemische Hautkrankheiten), das Uterinsystem (epidemisches Kindbettfieber, Abortus), ja Öhrendrüsen und Fingerspitzen (epidemischer Mumps, Fingerwurm). — Es entwickeln sich sogar völlig neue Krankheiten, die nicht allein der Form nach, sondern auch in ihrem inneren Charakter neu sind, ja letztem nach oft ein ganz anderes Heilverfahren erheischen, als das bisher heilsam gewesene. So war z. B. ein Aderlass bei der Lungenentzündung zur Zeit der epidemischen Grippe im J. 1782 tödlich. Daher erfordert, wie wir dieses noch bei der orientalischen Cholera vor einem Dezennium erfahren haben, jede neue Epidemie ein neues Studium, „und die ersten Kranken“ — sagt Hufeland — „sind immer am schlimmsten daran, weil an ihnen der Arzt erst die Versuche machen muss, um den Krankheitscharakter und die passende Heilmethode zu erlernen.“ Auch der Wechsel der verschiedenen medizinischen Systeme, welche wir sämtlich als einseitige Bestrebungen, das kranke Leben wissenschaftlich zu deuten, betrachten, — hat seinen Ursprung mehr der Beobachtung, dass eine andere stationäre Krankheitskonstitution aufgetreten, als den Hypothesen und Einfällen der Ärzte zu verdanken. — Einfache, reine Epidemie nennt Hufeland eine solche, wo die Ansteckung bloß atmosphärisch bleibt und sich nicht von einem Individuum zum anderen mitteilt, kontagiöse Epidemie oder Kontagion dagegen, wo letzteres der Fall ist, indem die Krankheit sich in den Individuen zu solcher Höhe steigert, dass sich in ihnen ein Kontagium entwickelt; so kann ein und die nämliche Epidemie mit und ohne Kontagion sein, wie dieses die epidemische Grippe, die exotische Cholera u. a. m. genug gezeigt haben. Auch das Scharlachfieber, so wie das gelbe Fieber rechnet Hufeland hierher. — Die Schlussresultate seiner kleinen Schrift sind diese:

α) Die Atmosphäre kann, als Disposition, den allgemeinen Krankheitscharakter bestimmen, sie kann aber auch den Grund oder Lebenskeim einer bestimmten Krankheit erzeugen und mitteilen.

β) Jedes Kontagium ist ein solcher Lebenskeim, ein Same, der seines gleichen hervorbringen kann.

γ) Das Kontagium kann erzeugt werden sowohl in der Atmosphäre, als auf der Erde, und da sowohl im Toten, als im Lebendigen. Es kann sich sowohl von der Atmosphäre der Erde, als von der Erde der Atmosphäre mitteilen.

δ) Das atmosphärische Kontagium kann entweder atmosphärisch bleiben, oder sich im erkrankten Individuum reproduzieren und von diesem auf Gesunde übergehen (einfache Epidemie — Kontagion).

ε) Das terrestrische Kontagium kann eben so entweder terrestrisch bleiben, d. h. sich nur von Individuum zu Individuum mitteilen (Infektion, individuelle Ansteckung), oder es teilt sich auch der Atmosphäre mit und erzeugt eine kontagiöse Epidemie (Kontagion).

ζ) Wird das Kontagium bloß chemisch in der Atmosphäre aufgelöst, so entsteht die kontagiöse Atmosphäre nur in der Nähe des Kontagiums. Ist es aber wirkliches Fortleben desselben in der Atmosphäre, — dann ist’s Kontagion.

η) Das atmosphärische Kontagium kann die Atmosphäre selbst anstecken, wodurch allein die atmosphärisch begrenzten und atmosphärisch verbreiteten Krankheiten zu erklären sind.

ν) Einfache Infektion wird also entstehen, wenn entweder das Kontagium gar nicht in der Luft auflöslich ist, oder, wenn es das auch ist, die zu seiner Reproduktion in der Atmosphäre nötigen Bedingungen fehlen. Kontagion hingegen, wenn das Kontagium entweder atmosphärischen Ursprungs, oder aber, wenn auch terrestrischen Ursprungs, dennoch in der Atmosphäre auflöslich ist, aber auch dann nur, wenn zugleich in der Luft die zu seiner Reproduktion günstigen Bedingungen vorhanden sind.