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Verwandtschaft

Wir machen einen gewaltigen Sprung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Da finden wir plötzlich einen technischen Ausdruck vor, an dessen Wert die gegenwärtige Wissenschaft kaum zweifelt, die chemische Wahlverwandtschaft. Goethe hat seinem Roman diesen Titel gegeben, weil er das Verhältnis seiner Menschen durch das chemische Bild gut darzustellen glaubte. Es sind zwei Menschenpaare gegeben, von denen Männlein und Weiblein einander kreuzweise anziehen. Wer immer darüber nachgedacht hat, begnügte sich mit dem chemischen Bilde und setzte voraus, dass "Wahlverwandtschaft" in der Chemie ein ganz bestimmter technischer Ausdruck sei. Nun aber liegt dem Begriffe der Wahlverwandtschaft nur eine, ich möchte sagen, plumpe Beobachtung zugrunde. Es war von jeher gesehen worden, dass zwischen chemischen Körpern Beziehungen bestehen, die ihre Verbindung beeinflussen. Noch zur Zeit von Newton nannte man diese Anziehung chemischer Körper genau so wie die mechanische Anziehung Attraktion, wo in beiden Fällen das Wort Attraktion ein höchst ungenaues Bild bot. In der Mechanik ersetzte Newton das allzu poetische Bild von einer Anziehung durch das engere Bild der Schwerkraft; in der Chemie machte man bald darauf die Beobachtung, dass bei der Verbindung von zwei chemischen Körpern oft die Anziehung des einen in eine neue Verbindung besonders heftig sei. Geoffroy beschrieb diese Erscheinung — erklärt ist sie bis zur Stunde nicht — und gebrauchte zuerst anstatt des Wortes "elektive Attraktion" das Wort Affinität, Verwandtschaft (1718).

Was ist also hier in sprachlicher Beziehung vor sich gegangen? Es ist auf eine mangelhaft beobachtete Erscheinung der Chemie ein Begriff aus dem Familienleben oder dem Geschlechtsleben bildlich übertragen worden. Der Schüler, dem das Wort "chemische Verwandtschaft" oder "Wahlverwandtschaft" zum erstenmal entgegentritt, empfindet bei einiger Intelligenz ganz gut, dass man ihm anstatt einer Definition oder einer Erklärung nur eine hübsche Vergleichung gegeben habe. Verlangt man von einem technischen Ausdruck, dass er eine genau definierte Gruppe von Erscheinungen zusammenfasse, so ist das Wort "Verwandtschaft" kein solcher technischer Ausdruck. Im Augenblicke der Erlernung ist das auch ganz klar. Ist der Schüler aber inzwischen Chemiker geworden, hat er beim Worte Verwandtschaft vergessen, dass es sich nur um eine Vergleichung, nur um eine bildliche Anwendung handle, verwendet der Chemiker im Banne seines Berufsinteresses das Wort Verwandtschaft, so bildet er sich ein, daran einen technischen Ausdruck zu besitzen.

Die technischen Ausdrücke bilden die engere Umgangssprache jeder Spezialwissenschaft. Der Fachmann operiert mit ihnen und für ihn sind sie ebenso bequem und ebenso fehlerhaft, wie die Alltagsworte in der allgemeinen Umgangssprache es sind. Es muß eine Zeit gegeben haben, in welcher Ausdrücke wie Luft und Feuer technische Worte zeitgenössischer Gelehrter waren.