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Kristallographie

Dabei wurde der Wert der Kristallform für eine Klassifikation der Mineralien übersehen. Das Vorkommen von kurios und regelmäßig geformten, durchsichtigen Mineralien war natürlich niemals übersehen worden. Die Griechen hatten sich dafür eine fabelnde Hypothese zurechtgemacht und selbstverständlich nach dieser Hypothese Worte gebildet. Diese eckigen und durchsichtigen Mineralien erklärten sie für ein durch himmlisches Feuer besonders fest gewordenes Eis, die schönen, wasserhellen Kristalle des Quarzes nannten sie also einfach Bergeis. Krystallos hieß auf griechisch Eis; so entstand das Wort, von dem heute die Klassifikation aller Mineralien hergenommen wird. Und ich zweifle nicht daran, dass die alte Fabel vom Eise noch heute dahinter steckt, wenn man scheinbar technisch, aber vollkommen unklar von dem Wasser der Diamanten redet. Vielleicht liefert jemand die Geschichte dieses bildlichen Ausdrucks.

Das Vorkommen von Kristallen war also von jeher beobachtet worden, nicht aber die Regelmäßigkeit der Formen und darum nicht ihr Wert für die Einteilung. Die Beobachtung mußte erst genauer werden, man mußte erst die Neigungswinkel der Kristallflächen messen lernen, bevor man die andere Beobachtung machen konnte, was eigentlich das Unveränderliche in den veränderlichen Kristallformen des gleichen Körpers sei. Daher kam es, dass nicht nur der kühne und gelehrte Caesalpinus (im 16. Jahrhundert) sagen konnte: "Leblosen Körpern eine bestimmte unveränderliche Gestalt zuzuschreiben, scheint mit der Vernunft nicht übereinstimmend zu sein, denn es ist das Geschäft der Organisation, bestimmte Gestalten zu erzeugen;" ja selbst noch Buffon leugnete den konstanten Charakter der Kristalle und erklärte ihre Gestalten für zweideutiger als irgend ein anderes Kennzeichen der Unterscheidung von Mineralien. Erst der große Nomenklator der Botanik, erst Linné kam mit Bewußtsein auf den Gedanken, dass man die Kristallformen zur Klassifikation der Mineralien benützen könnte, so wie er die lange vor ihm entdeckten Geschlechtsteile der Pflanzen zur Klassifikation dieser Organismen benützt hatte. Wäre Linné ein modernerer Naturphilosoph gewesen. er hätte vielleicht zwischen der Kristallisation und dem Geschlechtsleben Ähnlichkeiten gesucht und gefunden; ein geistreicher Mann könnte sogar Beziehungen zwischen dem Geschlechtsleben und dem Dimorphismus der Kristalle suchen, um bald zu entdecken, dass er im besten Falle nur hübsche Metaphern geredet hätte. Der nüchterne Linné bildete sich auf seine Lehre von der kristallinischen Klassifikation nicht viel ein. Lithologia mihi cristas non eriget, sagt er einmal; seine Bescheidenheit war nicht unrichtig, weil auch er noch weit entfernt war von einer geometrisch genauen Beobachtung der Kristalle, weil er sich mit oberflächlichen Ähnlichkeiten begnügte und z. B. den Alaun und den Diamant in eine und dieselbe Klasse einreihte. Erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts begann man regelmäßig und pedantisch die Kristallwinkel zu messen und gelangte so zu der Überzeugung von der Beständigkeit der wesentlichen Form. Eine ungeheure alexandrinische Arbeit war vorher nötig gewesen. Noch 1808 konnte ein Franzose drei Quartbände allein über die Kristallerscheinungen eines einzigen Minerals, des Kalkspats, schreiben. weil dieses Mineral gegen 60 verschiedene Gestalten und gegen 700 Abarten aufweist. Das Ende dieses ganzen Untersuchungseifers war, dass die Kristallform als Grundlage einer neuen Klassifikation der Mineralien angenommen wurde, ohne dass über den inneren Zusammenhang der mineralogischen Form und der chemischen Zusammensetzung irgend etwas behauptet werden konnte. Nicht einmal zu einer eigentlichen Hypothese kam es. Es war nur die Vermutung vorhanden, dass wohl ein Zusammenhang bestehen möge. Man war sehr froh, als Mitscherlich (1822) den sogenannten Isomorphismus entdeckte; aber auch diese Beobachtung, dass nämlich gewisse Elemente in gleichen Verbindungen die gleichen Formen annehmen, war mehr kurios als erklärend.

Ein natürliches mineralogisches System ist darum bis zum heutigen Tage nicht vorhanden. Auf Grund der kristallinischen Vorarbeiten von Hauy und Werner hatte Mohs (1820) ein künstliches System aufgestellt, aber selbst noch an der Möglichkeit eines natürlichen verzweifelt; seitdem nähert man sich wieder einer mehr chemischen Einteilung der Mineralien. Aber die erwähnte Scheidung in eine chemische und in eine mineralogische Wissenschaft ist schon ein äußeres Zeichen dafür, dass selbst in diesen Körpern der leblosen Natur ein auch nur annähernder Zusammenhang zwischen Stoff und Form noch nicht entdeckt worden ist. Und so kann man wohl sagen, dass die technische Sprache der Mineralogie bis zur Stunde noch nicht einmal den Erkenntniswert unserer Umgangssprache erreicht hat; erst wenn zwischen Chemie und Mineralogie durch eine brauchbare Hypothese eine feste Brücke geschlagen wäre, erst dann hätte die technische Sprache der Mineralogie den so fragwürdigen Wert unserer Alltagsworte.

Es ist nun sehr auffallend, dass die technische Sprache der Mineralogie noch hinter der der Botanik zurücksteht. Die Thatsache selbst äußert sich z. B. darin, dass es seit hundert Jahren die Sehnsucht der Mineralogen ist, eine solche Nomenklatur zu erreichen, wie sie die Botaniker seit Linné besitzen, und dass die Namen der wissenschaftlichen Botanik, wenn auch nicht systematisch, sondern mehr nach dem Zufall der Mode und des Nutzens, Gemeingut jedes Gärtnergehilfen und jedes Gärtnereibesitzers geworden sind, während höchstens die chemischen Nomenklaturen, nicht aber die mineralogischen, durch Drogenhandlungen ab und zu in die Gemeinsprache eindringen. Diese Tatsache ist darum auffallend, weil nach der landläufigen Weltanschauung die unorganische Welt so viel leichter zu begreifen ist als die organische. Wir freilich wissen, dass die Erscheinungen des Lebens um nichts rätselvoller sind als z. B. die physikalischen Erscheinungen des Stoßes, wir wissen, dass die Mechanik der Natur im Fortgang der menschlichen Erkenntnis noch schwerer erklärbar sein wird als die Organismen; wir werden uns also über die bessere Nomenklatur der Botanik nicht wundern.