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Evolution

Entwicklung oder Evolution ist das wissenschaftliche Schlagwort geworden für jeden Versuch, geschichtliche Veränderungen zu erklären. Die Verdichtung des Urnebels zu unserem Sonnensystem, die Gestaltung der festen Erdkruste, das Emporkommen des Pflanzenreichs und des Tierreichs auf dieser Erdkruste, die Geschichte der Menschheit und innerhalb dieses Gebietes wieder die Geschichte der Sprache, der Kunst, der Sitte, des Rechts, der Religion, alles ist seit einiger Zeit Entwicklung oder Evolution, so wie es vor einigen hundert Jahren Schöpfung oder Erscheinung Gottes war. Das Wort ist nicht erst durch den deutschen Darwinismus aufgekommen. Schon 1857 klagt Vischer (Ästhetik III. 1217): "Wie schön ist das Wort Entwicklung, und wie Viele brauchen es, wo Werden, Wachsen, sich Bilden und dergleichen vollkommen hinreichend wäre!" Entwicklung oder Evolution ist daneben auch das Modewort der populären Wissenschaft geworden und stellt sich immer wieder ein, wo deutlichere Begriffe fehlen. AVer heutzutage die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, wie sie etwa von Voltaire und von Herder dargelegt worden sind, in der Sprache unserer Zeit mitteilen wollte, der könnte gar nicht umhin, immer und immer wieder das Wort Entwicklung oder Evolution zu gebrauchen, trotzdem Voltaire und Herder vom Darwinismus und seiner Anwendung auf die Geschichte noch nichts wußten.

Zwingt man aber einen gelehrten Biologen oder einen sozialistischen Volksredner, den ihnen gemeinsamen Begriff Entwicklung zu definieren, so wird der eine wie der andere in nicht geringe Verlegenheit geraten. Es enthält nämlich auch dieses Wort eine kleine Nebenbedeutung, die ich nicht anders als mythologisch nennen kann. Wir denken nämlich alle, wenn wir Entwicklung oder Evolution sagen, an ein Fortschreiten von niedrigeren, schlechtem Formen zu höheren, bessern Formen. Wenn der sozialistische Volksredner es als Ziel der Entwicklung hinstellt, dass der Individualismus der Vergangenheit einem Sozialismus der Zukunft Platz machen werde, so schwebt ihm und uns die Zukunft als eine höhere, bessere Gestaltung vor. Aber auch der Biologe, der die Entwicklung z. B. des Menschen aus der einfachen Zelle lehrt, versteht unter dem jeweilig späteren Organismus jedesmal den höheren oder besseren. Da ist also in dem Begriff der Entwicklung eine Wertvergleichung mitverstanden, ohne dass wir wüßten, woher wir den Maßstab für solche Schätzungen gewonnen hätten. Wir werden darum gut tun, aufmerksam zuzusehen, zu welcher Zeit der bildliche Begriff Entwicklung diese moralische, diese wertende Nebenbedeutung bekommen habe.

Das deutsche Wort ist alt, und das ältere lateinische Wort war eine Metapher, die ursprünglich deutlich verriet, was sie bildlich darstellen wollte. Wir haben diese Worte im Französischen als évolution, développement, besonders aber als explication noch deutlich vor uns. Diesen standen erklärend involution, enveloppement und complication gegenüber. Die Begriffe wurden in der Logik angewandt, so oft sich die Ahnung einstellte, dass die logischen Operationen nur auseinander legen, was vorher in die Begriffe hinein-gelegt worden ist. Schon Cicero nennt einmal die Definition (wenn ich in wirklichem Deutsch übersetzen soll) die Auswickelung dessen, was in das Wort hineingewickelt worden war. Durch solche wörtliche Übersetzung tritt das Bild wieder deutlich zum Vorschein. Als Jakob Böhme den Begriff in die deutsche Sprache einführte, sagte er "Auswickelung". Erst vor etwa hundert Jahren wurde bei uns Entwicklung gebräuchlicher, während in Frankreich das Wort explication (Auseinanderfaltung) für die logische Erklärung üblich blieb und evolution nach englischem Vorbilde das bedeutete, was wir Entwicklung nennen. Ich will von jetzt ab immer Evolution sagen, weil es das Modewort aller Kultursprachen geworden ist.

Der modernen Bedeutung fing das Wort sich am Ausgang des Mittelalters zu nähern an, als man außerhalb der Logik das Verhältnis zwischen Gott und Welt neu zu erklären suchte. Der außerweltliche Schöpfer der Welt, der Gott, der nur von außen stieß, begann zu verblassen, und der jetzt "monistisch" genannte Gedanke dämmerte unklar herauf. Man fing an, die Entstehung von Pflanzen und Tieren schärfer zu beobachten, man bemerkte, dass in der Pflanzenknospe die künftige Pflanze schon zusammengewickelt, zusammengefaltet (involviert, kompliziert) beieinanderlag, dass sie nicht neu geschaffen zu werden brauchte, sondern nur auseinandergewickelt, auseinandergefaltet (evolviert, expliziert). Es lag also nahe, das Bild von der Pflanzenknospe auf die Entstehung der Welt anzuwenden, die von nun an nicht sowohl geschaffen als vielmehr aus dem Gott heraus entwickelt wurde. Diese Metapher hatte für gottgläubige Christen ursprünglich so wenig Anstößiges, dass sie sich sogar bis zum heiligen Augustinus zurückverfolgen läßt. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, dass die Evolution in diesem Sinne noch nichts mit einem Fortschreiten der einmal entstandenen Welt zu höheren Gestaltungen zu tun hatte, dass diese Evolution vielmehr nur in bequemer Weise der endlosen Frage nach dem Warum der Dinge ein Ende zu machen suchte. Als die alte Antwort "Gott habe alles geschaffen, was da ist" nicht mehr genügte, da freute man sich der wohlfeilen neuen Antwort: "Alles, was ist, sei implizite schon in Gott dagewesen." Das Bild von der Evolution ging nur auf das Weltganze in seinem Verhältnis zu Gott. Sofort freilich, seit Giordano Bruno wenigstens, fingen die Denker an, das Bild auch auf das Einzelne anzuwenden, und so ging aus der Metapher von der Auswickelung langsam der Darwinismus hervor.

Aber es dauerte noch lange, bevor die Evolution klar und deutlich das Fortschreiten zu etwas Besserem mitbedeutete. Die Unveränderlichkeit der Arten, die alten platonischen Ideen oder die Zwecke des Aristoteles, waren dem Menschengehirn so fest eingegraben, dass selbst die Ahnung einer Verwandtschaft aller organischen Formen die Vorstellung von festen Typen nicht zerstören konnte. Noch bei Goethe, den man so gern einen Vorläufer Darwins nennt, ist der Übergang eines Typus in den anderen nicht als ein Fortschreiten gedacht, sondern als eine Verwandlung, eine Metamorphose. Die Frage der Entwicklung betraf fast nur die Formen; man möchte sagen, es sei eine künstlerische Frage gewesen. Wirklich hat erst Darwin das Bild von der Pflanzenknpspe auf alles Einzelne angewandt und ungefähr gelehrt, dass die sogenannten höheren Arten sich aus den niederen herauswickeln, nicht weil sie vorher hineingewickelt waren, sondern weil die "Anlage" vorhanden war. Man achte wohl darauf, dass die Metapher von der Herauswickelung damit ihre ganze Bildlichkeit verloren hatte, dass eine Art Emanation daraus geworden war. Evolution war eine bildliche Erklärung, wie das Weltganze aus Gott hervorgehen möge. Mit dieser Vorstellung hat Darwin nichts mehr zu tun. Er findet aber das Wort Evolution vor als eine verblaßte Metapher, läßt das Bildliche fallen und glaubt, und mit ihm glaubt die ganze Welt, einen neuen Begriff zu besitzen. In Gott lag die Welt zusammengefaltet, wie die Keimblättchen im Samen; darum konnte die Welt aus Gott hervorgehen. Nun wird das Wort "hervorgehen" schon für einen begreiflichen Vorgang gehalten, und Darwin läßt die höhere Art aus der niedern hervorgehen, trotzdem sie nicht in dieser zusammengefaltet lag. Und auch der wertende, also moralische Begriff des Fortschreitens zum Höheren, zum Besseren schleicht sich jetzt in das Wort Evolution ein. So wird auch der Begriff "Evolution" wieder von seiner eigenen Geschichte umgeben, unabweisbar und dennoch verschleiernd.