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Einzelding

Übrigens ist sogar der Begriff "Einzelding" selbst schwer zu bestimmen. Ist der Fötus im Mutterleib ein Einzelding oder nicht? Ist die Rose am Stock ein Einzelding? Rudolf Virchow, der das Individuum definiert als "eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zwecke zusammenwirken oder nach einem bestimmten Plane tätig sind", wird wohl jedesmal den Weltbaumeister, den lieben Gott (ohne den von objektiven Zwecken nicht die Rede sein kann) zur Entscheidung bemühen müssen und auch dann noch, schwerlich zu einer Entscheidung darüber kommen, ob "Fruchtabtreibung" als Unrecht gegen die Frucht oder gegen die Mutter aufzufassen und zu bestrafen sei. Auch Sigwart kommt bei der Frage nach dem Individualbegriff über die Frage nach Form oder Zweck nicht hinaus. Ein Käselaib wäre durch seine Form ein Individuum, ein Tier wäre es durch die Zweckbeziehungen zwischen den Teilen und dem Ganzen. Schön. Wird aber das abgeschnittene Stück Chester nicht auf dem Teller des Kellners zum Einzelding? Gar sehr! Und wenn, wie bei vielen niedern Tieren, das durchschnittene Individuum in zwei Exemplaren weiterlebt, wie dann?

Man hätte sich die klugen Köpfe nicht so sehr über diese an der Schwelle stehende Frage zerbrochen, wenn man gefühlt hätte, wie töricht die Sprache auch hier ist und wie wir die Narren der Sprache sind, weil wir jeden Widersinn ihrer Hilflosigkeit für Tiefsinn nehmen. Mir scheint die Lösung so zu liegen: Wir wissen alle immer ganz genau (im alltäglichen Leben), welcher Anschauung (welchem Ding) wir das Prädikat "Einzelding" oder "Individuum" beilegen sollen. Greifen war aber nun den Begriff "Einzelding" oder "Individuum" heraus, machen wir ihn zum Subjekt und fragen wir nach seiner Definition oder nur nach seinem Prädikat, so stellt es sich heraus — wie immer — dass wir redenden Menschen prädizieren, aussagen, ohne uns etwas Klares dabei zu denken, das heißt ohne etwas Klares zu sagen. Wählen wir nun statt "Einzelding" oder "Individuum" den Begriff "Einheit", so wird uns die mythenbildende Silbe "-heit" sofort vermuten lassen, dass wir es mit einem Wortfetisch, mit einem unvorstellbaren Abstraktum, mit einem Irrwisch zu tun haben. Sagen wir aber "Einheit", so erfahren wir auch, warum der Begriff so unklar ist. Weil "Einheit" ein Maß ist, also der subjektivste, momentanste, wechselndste aller Begriffe. Von der Raumeinheit hing es ab, ob war uns unser Sonnensystem auf das Maß eines Moleküls bringen, ob wir uns die Mücke zum Elefanten machen wollen, von der Zeiteinheit hängt es ab, ob das Leben einer Eintagsfliege lang oder die Periode bis zum dereinstigen Zusammenfallen von Erde und Sonne kurz genannt wird. Das Stückchen Chester ist eine Einheit für Wirt, Kellner und Gast, das Bröckehen Rinde, das herunterfällt, ist eine Einheit für die Milbe darin und für das Huhn, das es eben aufpickt; der Käselaib, von dem sie es abgeschnitten hat, ist neben andern Käsen eine Einheit für die "kalte Mamsell"; das Schiff, das diesen Käse mit andern herüberbrachte, ist eine Einheit für seine Interessenten; die Käsefabrik in Cheshire ist ein Einzelding neben andern Käsefabriken von Cheshire; der Fabrikant ist ein Individuum für seine Interessenten, gewiß, aber nicht für den einzelnen Schwindsuchtsbazillus in seiner Lunge; die Grafschaft Cheshire ist ein Individuum für den kranken Fabrikanten und seine Mitbürger; England ist ein Individuum — solange es als Einheit existiert; die Erde ist ein Individuum, solange sie nicht in die Sonne zurückgestürzt ist, die Sonne, solange sie nicht wieder aufgegangen ist in ihrer Zentralsonne, — wie die Milbe im Bröckchen des Käsestückchens ein Einzelding ist — solange irgend jemand ein Interesse daran hat, sie sprachlich als Eins zu fassen (III. 142 f.).

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