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Weltanschauung

Diese Situation der Seele umfaßt das, was man etwas großartig die Weltanschauung des Einzelnen nennen mag, wohlgemerkt die Weltanschauung, wie sie im Momente gerade beim Sprecher oder Hörer vorhanden ist. Wir haben unsere ganze Weltanschauung nicht immer beisammen. In dieser Weltanschauung steckt viel mehr als das bloße Wissen, obgleich auch die Summe der Erkenntnis mit unzähligen Fäden an die Zufälligkeit unzähliger Augenblicke geknüpft ist. Die Weltanschauung ist weiter von dem Habitus des einzelnen Menschen bestimmt, von seiner physiologischen Komplexion, deren Vielgestaltigkeit man vergeblich systematisch in die Temperamente eingeteilt hat. Die Weltanschauung des Einzelnen ist weiter beeinflußt von den herrschenden Ideen einer Zeit, also von ihren Vorurteilen. Eine rote Nelke im Knopfloch eines Volksredners spricht heute ihre Sprache; sie wird verständlich durch die Situation, durch die Idee oder das Vorurteil der gegenwärtig herrschenden Weltanschauung. Die rote Nelke war vor hundert Jahren stumm. Wenn ein Stamm von Menschenfressern sich zu einem Festmahl niedersetzt, um einen erschlagenen Feind zu verzehren, so sind die dabei ausgeführten frommen Gesänge nur für den verständlich, der die Situation kennt, die Weltanschauung hat, welche die Seele des Fressenden um die mutige Seele des Erschlagenen zu bereichern meint. So hat jedes Volk und jede Zeit ihre besondere Kultursituation; es ist der Hauptgrund, weshalb die Dichtungen ferner Völker und ferner Zeiten uns unverständlich geworden sind. Es sind oft Pointen, zu denen wir die Anekdoten nicht kennen.

Der größte Teil alles Sprechens besteht bei Sprechenden und Hörenden in einem Überblick oder in einem Rückblick auf die Situation. Je gegenwärtiger oder je gemeinschaftlicher die Situation ist, desto weniger Worte sind notwendig. In der Erzählung kann ein "er" oder der Name des Helden ganze Bände ersetzen. Die Bühne gestattet eine knappere Sprache, weil sie die Situation der Anschauung bietet. Der Roman muß ausführlicher sein als ein Geschichtswerk, weit der Leser vorher absolut nichts au Situation in sich vorfindet.