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"vielleicht"

Wir haben gelernt, dass die Mitteilung in der vorsprachlichen Zeit nichts Anderes sein konnte als eine hinweisende Gebärde oder ein hinweisender Laut innerhalb einer gegenwärtigen Situation. Die Situation war das selbstverständliche psychologische Subjekt, die Aufmerksamkeit auf einen Punkt der Situation oder auf eine neue Wahrnehmung innerhalb der Situation, oder die Hinweisung auf diesen Gegenstand der Aufmerksamkeit war das psychologische Prädikat. Wir haben gelernt, dass alle Worte auf metaphorischem Wege aus solchen allgemeinen hinweisenden Prädikaten entstanden sein müssen, dass Dingwörter und Zeitwörter, dass die Kategorien der Sprache bis hinab zu den umfassendsten Konjunktionen, dass sogar die Tonfärbungen der Frage, des Befehls, der Bitte usw. metaphorisch sich ausbreiteten, dass noch in der "hochentwickelten" Sprache die Situation es ist — wenn auch längst nicht mehr allein die gegenwärtige Situation — welche den Sinn des einzelnen Wortes erklärt. Die Worte sind vieldeutig; eindeutig werden sie durch die Einheit der Seelensituation im Sprechenden und Hörenden, soweit da eine Einheit herzustellen ist. Der sogenannte Sprachgebrauch, der uns die einzelnen vermeintlich eindeutigen Worte zu einem eindeutigen Sinn so zuverlässig zusammenzufassen scheint, ist nur das Netzwerk, ist nur der Kanevas, in welchen unsere Erinnerung ihre Bilder hineinstickt. Wir glauben z. B. bei dem französischen peut-être, bei dem deutschen "vielleicht" den Begriff der bloßen Möglichkeit (besonders zum Unterschiede von der Wahrscheinlichkeit) deutlich ausgesprochen zu hören. In den Worten liegt dieser Begriff nicht. "Vielleicht" hieß im Mittelhochdeutschen ausdrücklich so viel wie "sehr leicht", also wahrscheinlich. Auch das französische Wort bedeutete früher mehr die Nuance des Zweifels. Wann haben jemals diese Worte den Sinn der logischen Möglichkeit erhalten? Niemals, und sie haben ihn heute noch nicht. Sie haben auch in der heutigen Sprache nur dieselbe Funktion, die ebenso gut ein hm oder eine Geste oder ein zweifelnder Blick haben könnte. Sie erinnern nur daran, dass wir den Satz, in welchem sie vorkommen, nicht zuversichtlich hören oder sprechen wollen. Liegt der Begriff der bloßen Möglichkeit nicht in meiner Vorstellung, so Werden die Worte ihn auch nicht hineinbringen. Wird jemand eines Diebstahls beschuldigt und sagt er darauf: "Vielleicht bin ich der Dieb!" so spricht das Wort ironisch die denkbar stärkste Negation aus.

Wäre die Sprache wirklich ein so kunstreicher Bau, wie die Logiker und Grammatiker uns seit zweitausend Jahren einreden wollen, so bliebe sie zwar nach unserer Lehre ungeeignet für die Erkenntnis der Welt, aber sie wäre doch ein herrliches Mittel für die Ordnung und Übertragung unserer Erkenntnisse. In Wahrheit aber zeigt uns jede sprachliche Darstellung oder Erzählung dieselbe Unfähigkeit der Sprache, in Worten auseinanderzulegen, was in der Wirklichkeitswelt beisammen ist, in aufeinanderfolgenden Worten die Exposition zu geben, die der Redende in einem einzigen Augenblicke nicht nur übersieht, soweit er sieht, sondern auch auf einen einzigen Punkt hin beleuchtet. Das ist ja die letzte künstlerische Bedeutung des Dramas, die sich uns nun plötzlich enthüllt, dass im Drama die Exposition Handlung ist und darum in der Zeit vor sich gehen kann;  schlechte  Dichter  erkennt man  gerade  daran, dass sie, wie die arme Sprache der Darstellung und Erzählung, eine Exposition ohne Handlung geben.