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Vielheit

Von Kindern und von Wilden wissen wir es, dass sie mit den neu gelernten Zahlbegriffen, z. B. mit der 3 oder 4, zuerst den Begriff der Vielheit verbinden, je nach Umständen möglicherweise den der geringen oder der großen Vielheit. Lesen wir Aristoteles oder irgend einen anderen Lehrer der Logik, so erfahren wir ebenfalls, dass der Begriff oder feierlicher die Kategorie der Quantität in die Unterbegriffe der Einheit, der Vielheit und der Allheit zerfällt.

Dass Vielheit ein ungenauer Begriff sei, wird jeder zugeben. Ungenau gesprochen umfaßt die Unterkategorie der Vielheit sämtliche Zahlwerte, die sich von der Unendlichkeit selbst nur durch deren beide Endwerte unterscheidet; auch vom Standpunkte des Gefühls ist nie vorher zu wissen, ob der sprachliche Ausdruck "viel" im Verhältnis zu einer kleineren Zahl als groß oder im Verhältnis zu einer größeren Zahl als klein werde empfunden werden, ob mit den Vielen eine Majorität oder eine Minorität bezeichnet sei. Das ist dann banal bei Geldsummen, bei der Ausdehnung von Grundstücken, kurz überall wo der Besitz einer Vielheit bei dem Besitzer oder Besitzwollenden ein Interesse erregt; es ist aber auch einleuchtend in rein logischen Folgerungen, wo die Berufung auf "viele" bald ein allgemeines Urteil begründen, bald als belanglos angesehen werden kann. Zwei Beispiele. "So viele Menschen ich geprüft habe, ließen sie sich alle von egoistischen Motiven leiten; also sind alle Menschen Egoisten." Ich weiß wohl, dass es nur ein sprachlicher Zufall ist und nur im Deutschen notwendig, dass hier "so viele Menschen" die Worte "viele Menschen" mit enthält; bringe ich den Satz aber auf eine streng logische Form, so kommt das reine "viele" zum Vorschein, und zwar in einem unvollständigen induktiven Beweise: ich habe viele Menschen geprüft, diese alle verrieten Egoismus, also erwarte ich Egoismus auch bei allen anderen. Das ist der psychologische Weg, auf welchem doch schließlich induktiv alle unsere Urteile, das heißt alle Begriffe und die in den Begriffen verborgenen Urteile entstanden sind. Es ist eine Frage des Sprachgebrauchs, ob man mit dem Begriff "viele" die zum induktiven Beweise einer Kegel wünschenswerte Zahl oder die gleichgültige Zahl der Ausnahmen von dieser Regel begreift. Es ist also in dem zweiten Beispiele: "Viele Menschen kommen ohne Beine auf die Welt; trotzdem gehört es zur Vorstellung vom Menschen, dass er zwei Beine habe" — dieselbe Unterkategorie der Vielheit, welche sonst zur Herstellung des induktiven Beweises genügt, gar nicht in Betracht gezogen. Gerade die Fälle von organischen Mißbildungen sind für unser sprachkritisches Interesse besonders lehrreich, weil bei dem äußersten Grade der Mißbildung die Regel (ausgedrückt in der Definition oder in der Beschreibung des Begriffs Mensch) einfach dadurch gerettet wird, dass man die verkümmerte Frucht gar nicht unter den Menschenbegriff aufnimmt. Als man noch an die Existenz von Menschenkindern mit Tierköpfen glaubte, gab es über die Anwendung des Menschenbegriffs theologischen und juristischen Streit; heutzutage wird es keinem Menschen einfallen, eine Mole für seinesgleichen anzusehen, eine Mole einen Menschen zu nennen, trotzdem es "viele" Molen gibt, die die "Früchte" von Menschen sind.

Die Einheit ist zwar ein viel brauchbarerer Begriff als die Vielheit, aber aus der Wirklichkeitswelt genommen ist auch sie nicht. Genau betrachtet gibt es auf der ganzen Welt für jeden Menschen nur eine einzige Einheit, die Einheit seines Bewußtseins, und wenn man diese Einheit analysiert, so bleibt auch da an Stelle der diskreten Einheit nur die Kontinuität des Bewußtseins bestehen (I. 664 f.). Wo immer wir sonst von einer Einheit ausgehen, da handelt es sich nur um eine Konzentration unseres Interesses, also um einen vorübergehenden Gesichtspunkt unseres Bewußtseins. Die Eins ist noch keine Zahl, sondern nur der Grenzbegriff des Zählens. Die Zwei ist, wie gesagt, die erste wirkliche Zahl.