Zum Hauptinhalt springen

Verbum immer unwirklich

Die besten, ich möchte sagen, die echten Verben, die Zeitwörter (weil man mit ihnen eine Veränderung in der Zeit ausdrücken will), lassen sich durch die Kunstmittel des Malers nicht mitteilen. Das Satteln dauert vielleicht einige Minuten lang, und der Maler kann bekanntlich nur einen einzigen Augenblick wiedergeben. Dennoch wird ein Reiter einer guten Zeichnung von einem Kavalleristen neben seinem Pferde sofort ansehen, ob der Kavallerist aufsteigen wolle oder abgestiegen sei oder ob er eben die Handlung des Satteins vornehme. Seine Sachkenntnis deutet ihm die Situation des Augenblicks. Nun sagte man gewöhnlich, dass die in der Zeit verlaufende Sprache die Handlung darstellen könne, ja dass sie nichts als Handlung (in der Poesie) darstellen dürfe. Lessing hat in seinem Laokoon die Grenzen zwischen Malerei und Poesie auf diesen Unterschied von Raum und Zeit begründet. Theoretisch konnte die Psychologie des vorigen Jahrhunderts nichts dagegen einwenden; Lessings Theorie war ein bedeutungsvoller Fortschritt gegen die dichtenden Malereien seiner Zeit. Die neuere Psychologie aber läßt uns erkennen, dass auch das Verbum, in welchem Lessing das Hauptwort der poetischen Darstellung hätte sehen müssen, nur ein Situationsbild wachruft, aus welchem sich unsere Sachkenntnis eine Veränderung im Räume oder in der Zeit, eine Tätigkeit konstruiert. Die von Substantiven abgeleiteten Verben sind dafür besonders lehrreich. "Satteln" (um das Wort noch einmal zu bemühen) enthält zwei Bestandteile, das Substantiv Sattel und die Endsilbe, welche eine sogenannte verbale Vorstellung erweckt; das Wort heißt etwa: Etwas mit dem Sattel machen, etwas mit dem Sattel vornehmen, die Lage des Sattels anders werden lassen, als sie vorher war. Wir haben schon gezeigt, wie unsere Wahrnehmung die unzähligen Finger- und Handbewegungen oder gar die Muskelreizungen und Innervationen z. B. beim Graben oder Stricken gar nicht sondert, wie unsere Wahrnehmung aus einem augenblicklichen Situationsbilde oder aus mehreren solchen die Handlung erst kombiniert, wie erst der Zweckbegriff, den wir in eine unendliche Eeihe von minimalen Bewegungen hineinlegen, den wir bei ihnen voraussetzen, als Handlung einen sprachlichen Ausdruck erhält. Was wir mit den Sinnen wahrnehmen beim Satteln, beim Ackern, beim Graben oder Stricken, das ist in keinem Augenblicke etwas, was einer Handlung irgendwie ähnlich sähe. Unsere Wahrnehmungen sind — wie gesagt — immer adjektivischer Art. Unser Interesse ist es, unter Umständen statt der Adjektive rot, weich, süß, saftig, die gemeinsame Ursache dieser Adjektive zu beachten, das sogenannte Ding, und es Apfel zu nennen. Unser Interesse ist es wiederum, was uns veranlaßt, die durch einen Zweckbegriff vereinigten Wahrnehmungen ebenso durch ein Verbum zusammenzufassen. Beim Substantiv setzen wir in der Wirklichkeitswelt wenigstens eine Substanz voraus, die die vorausgegangene gemeinsame Ursache der Adjektive ist. Beim Verbum ist das Gemeinsame, der Zweck der minimalen Veränderungen, der Sinn des Verbums also, in der Gegenwartswelt ganz gewiß nicht vorhanden. Das Verbale in den Vorgängen kann schon aus diesem Grunde nicht eigentlich mitgeteilt werden, ein eigentliches Verbum ist gar nicht möglich; die verbalen Formen fordern uns nur auf, eine Tätigkeit und dergleichen aus den Worten herauszuhören oder in sie hineinzulegen, das heißt unsere Aufmerksamkeit mehr auf die Veränderung der Situation als auf die Situation selbst zu richten. Etwas von einer wirklichen oder möglichen Änderung der Situation meinen wir auch bei den Verben, die keine Tätigkeiten ausdrücken. Der unveränderte Zustand eines grünen Waldes heißt in der Sprache "der Wald ist grün"; sage ich "der Wald grünt", so vergleiche ich den jetzigen Zustand mit der graubraunen Färbung im Winter. Das Verbum in "das Buch liegt auf dem Tische" sagt nicht genau dasselbe wie etwa in "das Buch ist dick"; im Liegen wird die Möglichkeit angedeutet (unter Umständen ganz fühlbar), dass das Buch sicher ruhe und nicht herunter gefallen sei.