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Unvereinbarkeit der Seelensituationen

So sind wir wieder einmal zu dem Grundgedanken dieser Kritik zurückgeführt, wieder auf einem neuen Wege. Wir haben gesehen, wie alles Reden im Gespräche und alle Sprachkunst des Schriftstellers darauf ausgeht, eine Gemeinsamkeit der Seelensituation zwischen den Unterrednern, zwischen Autor und Leser herzustellen. Diese Gemeinsamkeit läßt sich immer nur für den augenblicklichen Zweck, für die verständliche Mitteilung des augenblicklich sich aufdrängenden Prädikats erreichen. Eine wirkliche Gemeinsamkeit des Weltbildes zwischen zwei Menschen ist niemals genau vorhanden. Niemals können zwei Menschen einander vollkommen verstehen. Denn alle syntaktischen Mittel der Sprache betreffen nur die allgemeinsten Beziehungen. Es hieße in schwindelerregende Abgründe hineinsehen, wollten wir auch nur fragen, ob die Menschen sich bei den Kategorien der Zeit oder der Ursache das gleiche vorstellen; doch wenn diese Frage auch bejaht würde, so würde durch die Gleichheit der syntaktischen Empfindungen doch noch lange nicht eine Gemeinsamkeit der Situation ermöglicht. Die Syntax bietet doch nur etwas wie ein Netzwerk auf dem Zeichenpapier; das Bild muß jeder Einzelne von seiner persönlichen Erfahrung hineinzeichnen lassen. Und wir wissen, dass der Wortschatz, in welchem sich die individuelle Erfahrung ein Lager aufgehäuft hat, niemals bei zwei Menschen auf die gleichen Sinneseindrücke zurückgeht. In dem einmal gegebenen Beispiele vom Löwen geht die Verschiedenheit der Seelensituation viel weiter als oben angedeutet werden konnte. Der Satz "Der Löwe ist edel" wird erst für die Seelensituation des Schülers verständlich, dessen Phantasie durch Tierfabeln und fabulierende Tiergeschichten angeregt worden ist. Nehmen wir nun an, ein Knabe sei gerade durch solche Fabeln in eine Lebensrichtung gedrängt worden, die ihn später auf die Abenteuer der Löwenjägerei führte. Angenommen, der im Dienste eines Menageriebesitzers arbeitende Löwenjäger habe sich jugendliche Phantasie bewahrt und lasse sich jedesmal von der edlen Erscheinung eines Löwen ästhetisch bewegen. Auch dann noch würde er laut lachen müssen, wenn ihm auf der Löwenjagd dem prachtvollen Tiere gegenüber plötzlich der Satz "der Löwe ist edel" in dem Sinne einfiele, wie er ihn als Schüler gehört hat. Ich hatte unter den Beispielen für die verschiedene Bedeutung des Wortes Löwe auch einen Mann Namens Löwe aufgeführt. Es könnte scheinen, als wäre das ein ungehöriges Beispiel. Aber vielleicht ist ein Vorfahr dieses Mannes um irgend einer Eigenschaft willen metaphorisch Löwe genannt worden, vielleicht gab es eine Zeit, in welcher zwischen Löwe als Männername und Löwe als Vorstellung eines reißenden Tieres mehr Gemeinsamkeit war, als heute zwischen dem Situationsbilde Löwe im Kopfe des phantastischen Knaben und später im Kopfe desselben zum Löwenjäger herangewachr senen Menschenkindes.