Zum Hauptinhalt springen

Situation bei Sprecher und Hörer

Ich habe zuerst ahnungslos und dann absichtlich die Ausdrücke psychologisches Subjekt, psychologisches Prädikat, Exposition und Situation durcheinander geworfen. Erst im Verlaufe der Untersuchung wurde mir klar, dass diese vier Bezeichnungen nur vom jeweiligen Standpunkt aus ihren Sinn nehmen, dass sie eigentlich ein und dasselbe besagen, den gleichen psychologischen Vorgang, den wir im Kopfe des Sprechenden Assoziation, im Kopfe des Hörenden Apperzeption zu nennen pflegen und der sich als ein und derselbe Vorgang enthüllt, wenn wir es nur wagen, ihn bis invorsprachliche Zeit zurückzuverfolgen.

Dass das psychologische Prädikat sich unaufhörlich bei einer Darlegung oder Erzählung in ein psychologisches Subjekt zurückverwandelt, insofern das ausgesprochene Unbekannte im nächsten Satze schon zum mitverstandenen Bekannten wird, haben wir bereits gesehen. Diese Tatsache, die noch eine logische Scheidung zwischen beiden Ausdrücken zuläßt, beschränkt sich aber auf den Sprechenden und auch da nicht rein. Alle seine Neuigkeiten, die sich in der Entwickelung der Rede zu bekannten Voraussetzungen Wandeln, werden ja nur mit Rücksicht auf den Seelenzustand des Hörenden vorgebracht; dessen verwunderte Frage oder Miene werden stillschweigend in Betracht gezogen oder doch angenommen, und die fortlaufende Rede wird zu einem Gespräch, in welchem unaufhörlich das psychologische Subjekt zugleich psychologisches Prädikat wird. Im wirklichen Gespräche wird dieses Verhältnis noch deutlicher, sowohl im gelehrten Disput als in der vulgärsten Unterhaltung. Wenn ich mit einem Begleiter das Haus verlasse und sage: "Es regnet," so ist das für mich, der ich den Regen schon vor einigen Sekunden bemerkt habe, ein psychologisches Subjekt, das ich mit der Absicht ausspreche, dass der Begleiter es als psychologisches Prädikat auffasse; dieser macht es aber in demselben Augenblicke schon wieder zu seinem psychologischen Subjekt und fügt wortlos ein Prädikat hinzu, indem er den Regenschirm ergreift.

Die neue Arbeit an unserer Sprachkritik hat uns also darüber aufgeklärt, dass die vielbewunderte Syntax unserer Sprache nichts ist als eine bequeme Hilfe, die Seelensituation des Redenden dem Hörenden zu suggerieren, dass dieselbe Suggestion mit etwas mehr Gehirnarbeit auch ohne jede Syntax erfolgt, dass die alte Einteilung des Sprachschatzes in die Kategorien des Nomens, des Verbums, des Adjektivs usw. ebenfalls nur zurückzuführen sei auf eine rein geistige, das heißt falsche, in der Wirklichkeit nicht vorhandene Unterscheidung der Sinneseindrücke nach ihrer Bedeutung für den Menschen, dass also alle Künste des Sprachbaues nie und nimmer etwas Anderes bieten können als eine schwache Rückerinnerung an Sinneseindrücke, welche der sprechende oder hörende Mensch erfahren hat. Die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Entstehung der Sprache oder vielmehr auf die Unterhaltung in vorsprachlicher Zeit, belehrt uns nun darüber, dass der Mensch mit seiner gegenwärtig so "hoch entwickelten" Sprache, mit seinem nicht mehr zu übersehenden Sprachschatze dennoch für die Erkenntnis der Wirklichkeitswelt nicht weiter gekommen ist als der Mensch einer Urzeit mit seiner hinweisenden Gebärde. An Stelle der hinweisenden Gebärde, welche für die gegenwärtige Situation immer genügte und heute noch genügt, mußte der hinweisende Wortlaut treten, sobald die Situation, das heißt die Summe der gegenwärtigen Sinneseindrücke in der Erinnerung weiter wirken sollte. Die Fülle dieser Erinnerungen ist für die Völker und die einzelnen Menschen ins Ungemessene gewachsen, der Sprachschatz mit seinen unzähligen syntaktischen und grammatischen Kombinationen gestattet urrs bequem über Milliarden von Sinneseindrücken zu herrschen, wie ein Spieler das Schachbrett regiert, aber über die Erinnerung hinaus kann alle Sprachgewalt nicht führen, und jede Bereicherung unserer Welterkenntnis oder unseres Sprachschatzes ist heute wie in einer Urzeit immer nur die Beobachtung eines für uns neuen Sinneseindrucks, die durch ein neues Prädikat erregte Aufmerksamkeit, das heißt die Orientierung in einer Situation. Für die letzte Erkenntnis ist der Kulturmensch unserer Tage nicht weiter gekommen; wenn er die Kathodenstrahlen entdeckt hat oder von ihnen erfährt, so ruft er sein "da!" und stillt für ein Weilchen seinen geistigen Hunger, so wie einst der hungernde Urmensch am Meeresstrande mit einer hinweisenden Gebärde auf die eßbare Muschel gezeigt hat.

* * *