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Seelensituation

Ich möchte den Ausdruck Situation in einem weiteren Sinne gebrauchen, als es bei Wegener geschieht, weil "Situation" einen Mangel der Ausdrücke "psychologisches Subjekt und Prädikat" nicht besitzt. Diese Bezeichnungen haben sich nämlich wohl von der Grammatik emanzipiert, sie setzen aber im Sprachverkehr zwischen zwei Menschen (z. B. zwischen dem Autor und dem Leser) eine Einheit des Bewußtseins voraus, die nicht vorhanden ist. Schon das, was wir eben bei der Erzählung bemerkt haben, dass nämlich unaufhörlich das psychologische Prädikat des vorausgehenden Satzes zum psychologischen Subjekte des folgenden Satzes wird, ist für den Sprechenden und für den Hörenden nicht gleich. Nicht einmal für alle Hörer oder Leser stimmt es genau, weil jeder einzelne Hörer oder Leser eine bessere oder schlechtere Vorbereitung mitbringt; was für den einen bekannt und Subjekt ist, ist für den andern neu. Der Sprecher gar oder Autor stellt sich ja nur so, als ob er ordentlich vom Bekannten zum Unbekannten weiter ginge; er versetzt sich in die Seele des Hörers oder Lesers, um für ihn das fortdauernde Spiel der Verwandlung des Prädikats in ein Subjekt zu vollziehen. Für ihn ist das achtzigjährige Leben Goethes die Exposition oder das psychologische Subjekt für den Tod des Faust oder den Tod Goethes oder für die Wirkung Goethes auf die Folgezeit. So können wir mit dem Begriffe des psychologischen Subjekts und Prädikats für die letzten Feinheiten des Denkens nicht viel anfangen und halten uns besser an die Situation der Seele, welche zwar unklar aber dafür ohne falschen Nebenbegriff so gut auf den Ausruf "es regnet" als auf die Abfassung oder Aufnahme eines historischen Werkes Anwendung finden kann.