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Exposition

Wegener nennt das psychologische Subjekt gern die Exposition. Was er darunter versteht, wird am deutlichsten durch Anwendung dieses Begriffs auf eine fortlaufende Erzählung, einerlei ob die Reihe von Sätzen zu einem Roman oder zu einer historischen Darstellung verknüpft wird. Wie in einem Theaterstück die Exposition uns mit den handelnden Personen bekannt macht, die wir nachher in ein interessantes Erlebnis verstrickt sehen, so ist in jedem einzelnen Satze einer Erzählung etwas Bekanntes und etwas Neues. Das Neue wird durch den Vorgang der sogenannten Apperzeption mit dem Bekannten verbunden. Das Bekannte, das wir das psychologische Subjekt genannt haben, ist vom Standpunkte des Inhalts die Exposition zum Prädikat. So sieht es im Kopfe des Sprechenden aus. Und auch im Kopfe des Hörenden wird jede hervorgerufene Vorstellungsgruppe, insofern sie Bekanntes ins Gedächtnis zurückruft, zu einer Exposition für das Neue, für das psychologische Prädikat. Im nächsten Satze ist dann das eben erst neu Hinzugelernte wieder psychologisches Subjekt für ein neues Prädikat geworden, so wie die aufregende Peripetie des vierten Aktes zu einer Exposition des fünften Aktes werden kann. Wir sind an diese Tätigkeit unseres Gehirns zu sehr gewöhnt, um uns über ihre Erscheinung in der Sprache noch zu verwundern. Wir wissen, dass die Sprache in abstracto, das heißt der besondere Sprachschatz eines Volkes oder eines Individuums das Gedächtnis dieses Volkes und dieses Individuums ist. Die einzelne Äußerung in concreto ist dann die Anwendung des Gedächtnisses, wo möglich die Bereicherung des Gedächtnisses um eine Neuigkeit, um ein Prädikat. Was dabei aktiv ist, das ist der uns wohlbekannte und doch so unerklärliche Zustand, den wir als Aufmerksamkeit kennen gelernt haben. Ein Interesse steckt dahinter. In der Erzählung, sei sie nun Geschichte oder Roman, wird das Interesse auf eine bestimmte Tatsache gelenkt. Z. B. in einer Lebensbeschreibung von Goethe halten wir gerade bei dem Leipziger Studenten. Zu der Exposition im Elternhause ist das Leben und Treiben in Leipzig als psychologisches Prädikat hinzugekommen. Wenn ein neues Kapitel nun mit den Worten beginnt: "Er dichtete damals die Lieder" usw., so ist "er" das grammatische Subjekt des Satzes, aber viel bedeutungsvoller ist es als psychologisches Subjekt. Was im vorhergehenden Kapitel das Neue, das Prädikat war, das wird nun als bekannt vorausgesetzt, ist zum psychologischen Subjekte geworden und ist in seiner ganzen breiten Masse notwendig, um das nun folgende Neue richtig apperzipieren zu können. Wenn dann fünfzig Seiten später Goethes Leben und Treiben in Straßburg dargestellt worden ist, so wird dieses Neue wieder zur bekannten Voraussetzung für ein folgendes Kapitel, das beginnt: "Er schrieb den Götz." Das psychologische Subjekt wächst so von Seite zu Seite an Inhalt. "Er" ist jetzt der Straßburger Student geworden mit seinen Beziehungen zu Herder, mit seiner Bewunderung für den Dom, mit seiner Liebe zu Friederike. Hinter dieser Fülle von Inhalt steckt natürlich — von der Aufmerksamkeit weniger beleuchtet — der Leipziger Student, der Knabe Wolfgang usw. Die Sachlage in unserem Gehirn ist, wenn man die Enge des Bewußtseins dabei in Betracht zieht, eine sehr merkwürdige. Im Bewußtsein, im Blickpunkt der Aufmerksamkeit steht immer nur das augenblicklich Interessante, das neue Prädikat. Das letzte Prädikat, das eben erst zum psychologischen Subjekte geworden ist, ist aber noch unmittelbar zur Hand, der Verkehr mit Herder z. B.; es hat die Stimmung erzeugt, in welcher wir die Neuigkeit, dass er den Götz schreibe, anders aufnehmen als sonst. Etwas weiter bei der Hand, aber immer noch alle Zeit zur Verfügung sind die weiter zurückliegenden psychologischen Subjektprädikate: der Leipziger Student, Goethe im Vaterhause usw. Was wir sonst im Gedächtnisse haben, z. B. die Geschichte des dreißigjährigen Krieges oder die Erfindung der Photographie, ist nicht bei der Hand, ist weder psychologisches Subjekt noch psychologisches Prädikat. Der gleiche Vorgang ist bei der Lektüre jedes elenden Romans zu beobachten. Die beiden ersten Bände sind das psychologische Subjekt, wenn der dritte Band mit den Worten beginnt: "Adolar erwachte."' Immer ist es das bereits Bekannte, was wir die Situation nennen können.