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Blickpunkt des Gedächtnisses

Das Bild vom Blickpunkt des Gedächtnisses verlockt beinahe dazu, es zu Tode zu hetzen. Suchen wir zu einem sogenannten Subjekt, also zu dem Gegenstände oder Substantiv, das uns gerade beschäftigt und das wir darum gar nicht auszusprechen brauchen, eine Beobachtung, ein Merkmal, kurz ein Prädikat, so wollen wir dieses Merkmal, diese Beobachtung an die Stelle des deutlichsten Sehens setzen, wir wollen es stärker als alles Andere beleuchten. Wer weiß, ob der Vorgang nicht verwandt ist mit einem wirklichen Beleuchten. Es ist, als ob wir mit einer Handlaterne im Dunkel etwas suchten. Wir rücken die abzusuchende Stelle in den beschränkten Lichtkreis der kleinen Laterne. Wir fragen die Dunkelheit ab, indem wir Punkt für Punkt beleuchten. Es ist immer das Dunkle, wonach wir fragen. Im lebhaften Wechselgespräch, wenn von zwei Menschen jeder immer nur ein Wort spricht (Wohin? — Fort. — Jetzt? — Gleich. — Warum? — usw.) werden überhaupt nur Prädikate gesprochen, die Subjekte sind selbstverständlich, sowohl die grammatischen als die psychologischen.

Gegen diese psychologische Notwendigkeit kann weder die Grammatik noch auch der wirkliche Sprachgebrauch aulkommen. Im Deutschen ist, wie eine aufmerksame Beobachtung leicht lehrt, das grammatische Subjekt durchaus nicht so sehr Herr der Situation, als das in der Schule gelehrt wird. Unsere freie Wortstellung verhilft dem psychologischen Subjekt zu seinem Rechte. Aber auch eine so fest geschnürte Sprache wie die französische muß ihre feste Wortstellung durchbrechen lassen, will sie der Mitteilung nicht Gewalt antun. In der französischen Schulsprache und Rhetorik ist das grammatische Subjekt allerdings fast allmächtig. Im alltäglichen Gespräch jedoch ist das psychologische Subjekt nicht zu umgehen. "Votre frère, j'ai de ses nouvelles." Ich kann nicht umhin auch bei dieser Satzkonstruktion die Empfindung des Barbarischen zu haben (natürlich um mich nachher des Wortes Barbarei wieder zu schämen). Es klingt mir, ich kann gar nicht sagen wie außereuropäisch, dass das psychologische Subjekt, das wonach gefragt worden ist, zuerst wie eine Aufschrift dasteht und dass sich dann ein regelmäßiger französischer Satz, in welchem das grammatische Subjekt fein ordentlich voransteht, mit einem Fürwort darauf bezieht. Wilde Völkerschaften sprechen, wenn ich den Missionarberichten trauen darf, so, dass eine oder mehrere Aufschriften vorausgehen. Und merkwürdig, die Chinesen, durch ihre feste Wortstellung gezwungen, müßten unsern Satz genau so konstruieren wie die Franzosen.

Für dieses psychologische Subjekt ist es vollkommen gleichgültig, welchem der sogenannten Redeteile es von der Grammatik zugewiesen wird. Wenn ich der Dame Blumen zu schenken beabsichtige und den Blickpunkt meines Gedächtnisses darauf richten will, an welchem Tage ihr Geburtstag sei, so wird der Tag zum psychologischen Subjekt, und es ist auch nicht der kleinste Unterschied zwischen dem Satze "am soundsovielten ist ihr Geburtstag" oder "den soundsovielten ist ihr Geburtstag" oder "der soundsovielte ist ihr Geburtstag", trotzdem das letztemal ein grammatisches Subjekt dazustehen scheint, das jedoch für mein Sprachgefühl nicht anders als das Adverbium der Zeit verstanden wird.

Es kann nur eine Vermutung sein, ist aber eine recht wahrscheinliche Vermutung, dass vor der Einführung der Flexionsformen unsere kultivierten Sprachen sich mehr als nachher an die Wortstellung halten mußten, um gleich richtig erraten zu lassen, welchen Teil des Satzes jedes Wort abgebe. Dann wäre die strengere Wortstellung im Französischen und Englischen entweder ein Atavismus oder ein Symptom dafür, dass diese Sprachen wie das Chinesische die strenge Wortstellung wieder nötig haben, weil sie die deutliche Flexion verloren. Auch die für unser Gefühl unerträgliche Freiheit der lateinischen Wortstellung, die z. B. bei Ovid leicht zum Rösselsprungrätsel wird, ließe sich zum Teil aus der außerordentlichen Übersichtlichkeit der Flexionssilben erklären. Wieder der Wortstellung mag eine fest geregelte, vielleicht sehr musikalische Betonungsordnung vorausgegangen sein, wie sie ja auch im heutigen Chinesisch noch oder wieder eine große Rolle spielt. Der Drang, sich durch starke Betonung verständlich zu machen, ist tief in uns eingewurzelt. Es sind nicht nur ungebildete Menschen, welche sich einem Ausländer, der kein Wort ihrer Sprache versteht, verständlicher zu machen glauben, Wenn sie heftig schreien. Aber auch die Betonung gehört erst dann zur Sprache, wenn sie konventionell geworden ist.

Der Blickpunkt des Gedächtnisses ist nur durch Konvention abhängig von Grammatik und Syntax. Die Syntax hat aber noch viel weniger eine Beziehung zur Wirklichkeitswelt als die Grammatik oder als die Worte. Die höhere Syntax verhält sich zum Nutzen der Sprache wie der Parademarsch zur Strategie. Doch auch die einfachste Syntax ist nicht notwendig. Die Syntax jeder Sprache ist barbarisch für jede andere.

Und wer über die Feierlichkeit der Syntax recht ausbündig lachen will, der besinne sich auf den gassenbübischen Sport, der kürzlich aufgebracht worden ist: den scheinbaren Unsinn, die Verse eines bekannten Liedes von hinten nach vorn zu lesen. Es gibt einfache Lieder (z. B. Uhlands "Frühlingsglaube"), bei denen der kleine Spaß überraschend gut gelingt. Es wäre das nicht möglich, Wenn die Wortkunst des Dichters nicht unabhängig wäre von der Syntax, wenn sie nicht allen jüngern syntaktischen und grammatischen Hilfen gern aus dem Wege ginge. Es wäre aber auch nicht möglich, wäre die Syntax nicht bedeutungslos für die Assoziationen der Worte oder Begriffe beim Sprecher, nicht bedeutungslos für die Verknüpfung der Worte oder Begriffe beim Hörer.

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