Zum Hauptinhalt springen

§ 61. Die traditionellen Probleme des „psychologischen Ursprungs“ und ihre phänomenologische Aufklärung

Innerhalb der Menschen- und Tierwelt tritt uns die bekannte naturwissenschaftliche Problematik der psychophysischen, physiologischen und psychologischen Genesis entgegen. Darin ist beschlossen das Problem der seelischen Genesis. Es ist uns nahegelegt durch die kindliche Entwicklung, in der jedes Kind sich seine Weltvorstellung aufbauen muß. Das apperzeptive System, in dem für es eine Welt als Reich wirklicher und möglicher Erfahrung da und immerzu vorgegeben ist, muß sich in der kindlichen Seelenentwicklung erst konstituieren. Das Kind kommt, objektiv betrachtet, auf die Welt; wie kommt es zu einem Anfang seines Seelenlebens?

Dieses psychophysische Auf-die-Welt-Kommen führt auf das Problem der leibkörperlichen (rein biologischen) Individualentwicklung und der Phylogenese, welches seinerseits eine Parallele hat in einer psychologischen Phylogenese. Aber weist das nicht auf entsprechende Zusammenhänge der transzendentalen absoluten Monaden, da doch Menschen und Tiere in seelischer Hinsicht Selbstobjektivierungen der Monaden sind? Sollten in alldem nicht ernste Wesensprobleme einer konstitutiven Phänomenologie als Transzendentalphilosophie sich anzeigen?

In einem weiten Maße sind allerdings genetische Probleme, und zwar natürlich die der ersten und fundamentalsten Stufen, schon in die wirkliche phänomenologische Arbeit eingetreten. Diese Fundamentalstufe ist natürlich die meines Ego in seiner primordialen Eigenwesentlichkeit. Die Konstitution des inneren Zeitbewußtseins und die ganze phänomenologische Theorie der Assoziation gehört hierher, und was in ursprünglicher anschaulicher Selbstauslegung mein primordiales Ego findet, überträgt sich auf jedes andere Ego ohne weiteres, und aus Wesensgründen. Nur daß damit freilich noch die oben bezeichneten generativen Probleme von Geburt und Tod und Generationszusammenhang der Animalität nicht berührt sind, die offenbar einer höheren Dimension angehören und eine so ungeheure auslegende Arbeit der unteren Sphären voraussetzen, daß sie noch lange nicht zu Arbeitsproblemen werden können.

Doch innerhalb der Arbeitssphäre seien hier noch gewaltige Problemgebiete genauer angedeutet (und zwar sowohl als statische wie als genetische Probleme), die uns in eine nähere Beziehung setzen zu der philosophischen Tradition. Die zusammenhängenden intentionalen Klärungen, die wir hinsichtlich der Fremderfahrung und der Konstitution einer objektiven Welt durchgeführt haben, vollzogen sich auf einem innerhalb der transzendentalen Einstellung uns vorgegebenen Boden, dem einer strukturellen Gliederung der primordialen Sphäre, in der wir schon eine Welt, eine primordiale, vorfanden. Sie war uns zugänglich geworden im Ausgang von der als Phänomen genommenen konkreten Welt und durch jene eigentümliche primordiale Reduktion derselben auf das Eigenheitliche, auf eine Welt immanenter Transzendenzen. Sie befaßte die gesamte Natur, reduziert auf die mir selbst zugehörige Natur aus meiner reinen Sinnlichkeit, aber auch den psychophysischen Menschen, darunter seine Seele, in entsprechender Reduktion. Hinsichtlich der Natur gehörten nicht bloß dergleichen wie Sehdinge, Tastdinge usw. sondern auch schon gewissermaßen volle Dinge als Substrate kausaler Eigenschaften mit den universalen Formen Raum und Zeit hinein. Offenbar ist es das für die konstitutive Aufklärung des Seinssinnes der objektiven Welt erste Problem, den Ursprung zunächst dieser primordialen Natur und der primordialen leibseelischen Einheiten aufzuklären, ihre Konstitution als immanente Transzendenzen. Seine Ausführung erfordert außerordentlich umfangreiche Untersuchungen. Wir werden hier von neuem erinnert an die so vielfach im letzten Jahrhundert und von den bedeutendsten Physiologen und Psychologen behandelten Probleme des psychologischen Ursprungs der Raumvorstellung, der Zeitvorstellung, der Dingvorstellung. Zu wirklichen Aufklärungen ist es bislang, so sehr die großen Entwürfe den Stempel ihrer bedeutenden Urheber zeigten, nicht gekommen.

Gehen wir von ihnen nun zu der von uns umgrenzten und dem phänomenologischen Stufensystem eingefügten Problematik zurück, so ist es evident, daß die ganze neuzeitliche Psychologie wie auch Erkenntnistheorie den eigentlichen Sinn der hier psychologisch wie transzendental zu stellenden Probleme, nämlich als Probleme intentionaler Auslegung, statischer und genetischer, nicht erfaßt hat. Das war ja auch nicht möglich, selbst bei denen, die Brentanos Lehre von den psychischen Phänomenen als intentionalen Erlebnissen angenommen hatten. Es fehlt das Verständnis für das Eigentümliche einer intentionalen Analyse und für die gesamten Aufgaben, die durch das Bewußtsein als solches nach Noesis und Noema eröffnet sind, und für die prinzipiell neuartige Methodik, die für sie erforderlich ist. Für die Probleme des „psychologischen Ursprungs der Raumvorstellung, der Zeitvorstellung, der Dingvorstellung“ hat keine Physik und Physiologie irgend etwas zu sagen, und keine sonst in induktiven Äußerlichkeiten sich bewegende experimentelle oder nicht experimentelle Psychologie. Es sind ganz ausschließlich Probleme intentionaler Konstitution für Phänomene, die uns schon als Leitfäden vorgegeben sind (ev. auch durch ein hilfreiches Experiment insonderheit vorgegeben werden können), die aber nun erst in intentionaler Methode und in den universalen Zusammenhängen der seelischen Konstitution befragt werden müssen. Was für Universalität hier gemeint ist, zeigt hinreichend deutlich der systematische Einheitszusammenhang der Konstitutionen, die die Einheit meines Ego entfalten nach Selbsteigenem und Fremdem. Die Phänomenologie bedeutet eben auch für die Psychologie eine prinzipielle Neugestaltung. Demnach gehört der bei weitem größte Teil ihrer Forschungen in eine apriorische und reine (d. h. hier, von allem Psychophysischen freigehaltene) intentionale Psychologie. Es ist dieselbe, von der wir schon wiederholt angedeutet haben, daß sie durch Verwandlung der natürlichen Einstellung in die transzendentale eine „kopernikanische Umwendung“ zuläßt, in der sie den neuen Sinn einer völlig radikalen transzendentalen Weltbetrachtung annimmt und allen phänomenologisch-psychologischen Analysen einprägt. Erst dieser neue Sinn ist es, der sie alle transzendental-philosophisch verwertbar macht und sogar sie einer transzendentalen Metaphysik einordnet. Eben hierin liegt die letzte Aufklärung und Überwindung des transzendentalen Psychologismus, der die ganze neuzeitliche Philosophie beirrt und gelähmt hat.

Offenbar ist nun, wie für die transzendentale Phänomenologie so für die ihr parallele intentionale Psychologie (als positive Wissenschaft), durch unsere Darstellung eine fundamentale Struktur vorgezeichnet, eine Scheidung der eidetisch-psychologischen Untersuchungen in solche, die das konkret Eigenwesentliche einer Seele überhaupt intentional auslegen, und solche, welche die Intentionalität des in ihr sich konstituierenden Fremden auslegen. Der ersteren Forschungssphäre gehört das Haupt- und Grundstück der intentionalen Auslegung der Weltvorstellung an, genauer gesprochen, des innerhalb der menschlichen Seele auftretenden Phänomens der daseienden Welt, als Welt der universalen Erfahrung: Wird diese Erfahrungswelt reduziert auf die in der einzelnen Seele primordial konstituierte, so ist sie nun nicht mehr jedermanns Welt, nicht mehr die aus vergemeinschafteter menschlicher Erfahrung ihren Sinn empfangende, sondern das intentionale Korrelat ausschließlich des einzelseelischen, zunächst meines erfahrenden Lebens, und seiner stufenweisen Sinnbildungen in primordialer Originalität. Ihnen nachgehend, hat die intentionale Explikation diesen primordialen Kern der phänomenalen Welt konstitutiv verständlich zu machen, den jeder von uns Menschen, und vor allem jeder Psychologe, durch die früher beschriebene Ausschaltung der Sinnesmomente der Fremdheit gewinnen kann. Abstrahieren wir in dieser primordialen Welt von dem in ihr reduziert auftretenden psychophysischen Wesen Ich-Mensch, so verbleibt die primordiale bloße Natur als Natur meiner eigenen bloßen Sinnlichkeit. Hier tritt als Urproblem des psychologischen Ursprungs der Erfahrungswelt das des Ursprungs des Dingphantoms oder Sinnendings mit seinen Schichten (Sehding usw.) und deren synthetischer Einheit ‹hervor›. Es ist (immer im Rahmen dieser primordialen Reduktion) rein als Einheit sinnlicher Erscheinungsweisen und ihrer Synthesen gegeben. Das Dingphantom in seinen synthetisch zusammengehörigen Abwandlungen von Nahding und Fernding ist noch nicht das reale Ding der primordialen seelischen Sphäre, das sich vielmehr, und schon hier, höherstufig als kausales Ding, als identisches Substrat (Substanz) kausaler Eigenschaften konstituiert. Substantialität und Kausalität bezeichnen offenbar höherstufige Probleme der Konstitution. Das konstitutive Problem des Sinnendinges und der ihm im Grunde wesentlichen Räumlichkeit und Raumzeitlichkeit ist nun die soeben angedeutete Problematik, die nur den synthetischen Zusammenhängen der Dingerscheinungen (Apparenzen, perspektivischen Aspekten) deskriptiv nachfragt, und zwar einseitig; die Gegenseite ist die intentionale Rückbeziehung der Erscheinungen auf den fungierenden Leib, der seinerseits in seiner Selbstkonstitution und in der ausgezeichneten Eigenheit seines konstitutiven Erscheinungssystems beschrieben werden muß.

In dieser Weise fortgehend, ergeben sich immer neue deskriptive Probleme der Auslegung, die alle systematisch durchgeführt werden müssen, wenn auch nur die Konstitution der primordialen Welt als Welt von Realitäten und in ihr die großen Probleme der Konstitution der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit — als dieser weltlichen — ernstlich behandelt werden sollen. Schon das bildet, wie die Ausführung erweist, ein gewaltiges Untersuchungsgebiet, und dabei ist es erst die Unterstufe für eine volle Phänomenologie der Natur, als objektiver, aber purer Natur, die selbst noch lange nicht die konkrete Welt ist.

Die Anknüpfung an die Psychologie hat uns veranlaßt, die Scheidung zwischen Primordialem und als fremd Konstituiertem in das rein Seelische zu übersetzen und die konstitutive Problematik der Konstitution einer primordialen und einer objektiven Natur als psychologische, wenn auch flüchtig, vorzuzeichnen.

Kehren wir aber wieder in die transzendentale Einstellung zurück, so ergeben nun umgekehrt unsere Vorzeichnungen für die Problematik vom psychologischen Ursprung der Raumvorstellung usw. auch wieder Vorzeichnungen für transzendental-phänomenologische parallele Probleme, nämlich die einer konkreten Auslegung der primordialen Natur und Welt überhaupt — womit eine große Lücke in unserer früher entworfenen Problematik der Weltkonstitution als transzendentales Phänomen sich ausfüllt.

Wir dürfen den außerordentlich großen Komplex der auf die primordiale Welt bezüglichen Forschungen (der eine ganze Disziplin ausmacht) auch bezeichnen als „transzendentale Ästhetik“ in einem sehr erweiterten Sinn, wobei wir den Kantischen Titel darum übernehmen, weil die Raum- und Zeitargumente der Vernunftkritik offenbar, wenn auch in außerordentlich beschränkter und nicht abgeklärter Weise, auf ein noematisches Apriori sinnlicher Anschauung hinzielen, das, zum konkreten Apriori der rein sinnlich anschaulichen Natur (und zwar der primordialen) erweitert, seine phänomenologisch-transzendentale Ergänzung fordert durch Einbeziehung in eine konstitutive Problematik. Allerdings würde es nicht dem Sinn des Kantischen Gegentitels „transzendentale Analytik“ entsprechen, nun auch mit diesem das höhere Stockwerk des konstitutiven Apriori, das der objektiven Welt selbst und das ihrer konstituierenden Mannigfaltigkeiten (in höchster Stufe der schließlich die wissenschaftliche Natur und Welt konstituierenden idealisierenden und theoretisierenden Akte) zu benennen. In das erste unsere „transzendentale Ästhetik“ übersteigende Stockwerk gehört die Theorie der Fremderfahrung, der sogenannten Einfühlung. Es bedarf nur des Hinweises darauf, daß hier dasselbe gilt, was wir für die psychologischen Ursprungsprobleme des unteren Stockwerkes gesagt haben, nämlich daß das Problem der Einfühlung erst durch die konstitutive Phänomenologie seinen wahren Sinn empfangen hat und seine wahre Methode der Lösung. Eben darum sind alle bisherigen Theorien (auch diejenige Max Schelers) ohne wirkliches Ergebnis geblieben, wie auch nie erkannt worden ist, wie sich die Fremdheit des Anderen auf die ganze Welt als ihre Objektivität überträgt, ihr diesen Sinn erst gebend.

Es sei noch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es selbstverständlich zwecklos wäre, die intentionale Psychologie als positive Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie gesondert abzuhandeln, und daß in dieser Hinsicht offenbar der letzteren die wirklich durchzuführende Arbeit zufallen wird, während die Psychologie, um die kopernikanische Wendung unbekümmert, aus ihr die Resultate entnehmen wird. Doch ist es auch wichtig, zu beachten, daß, wie die Seele und die objektive Welt überhaupt in der transzendentalen Betrachtung nicht ihren Seinssinn verliert, sondern dieser nur zu ursprünglicher Verständlichkeit gebracht wird durch die Enthüllung seiner konkreten Allseitigkeit, ebenso auch die positive Psychologie ihren rechtmäßigen Gehalt nicht verliert, sondern nur, von der naiven Positivität befreit, zu einer Disziplin der universalen Transzendentalphilosophie selbst wird. Von diesem Gesichtspunkt aus kann gesagt werden, daß in der Reihe der über die naive Positivität erhobenen Wissenschaft die intentionale Psychologie die an sich erste ist.

Ja sie hat noch einen Vorzug vor allen anderen positiven Wissenschaften. Wenn sie sich in der Positivität in der rechten Methode intentionaler Analyse aufbaut, so kann sie keine Grundlagenprobleme der Art wie die anderen positiven Wissenschaften haben, Probleme, die aus jener Einseitigkeit der naiv konstituierten Objektivitäten herstammen, welche schließlich, um zur Allseitigkeit zu kommen, den Übergang in die transzendentale Weltbetrachtung fordert. Die intentionale Psychologie hat aber, nur verborgen, das Transzendentale schon in sich — es bedarf nur einer letzten Besinnung, um die kopernikanische Wendung zu vollziehen, die ihre intentionalen Ergebnisse inhaltlich nicht ändert, sondern nur auf ihren letzten Sinn zurückführt. Nur das eine Fundamentalproblem schließlich — wie man auch einwenden kann, auch ein, aber das einzige Grundlagenproblem — hat die Psychologie: den Begriff der Seele.