[Beschränkung der Untersuchung auf die mitteleuropäische Bevölkerung. Ausgang von der jüngeren Steinzeit. Zwei Reihen von Tatsachen, die für und gegen die Hebung des intellektuellen Niveaus seit der jüngeren Steinzeit sprechen. Abstand der Kultur der Gegenwart von der der jüngeren Steinzeit. Kompliziertheit der Beziehungen zwischen Kultur und Intelligenz.]


Zunächst müssen wir uns aus räumlichen wie aus sachlichen Gründen die Fragestellung eng umgrenzen. Zu einer Zeit, in welcher in Deutschland die sogenannte Steinzeitkultur noch bestand, d. h. der Gebrauch metallener Geräte noch ganz oder fast ganz unbekannt war, besaß China bereits eine hochentwickelte Kultur. Es wäre zwar sehr interessant, doch würde es uns hier viel zu weit führen, auch nur den Versuch eines Vergleichs unternehmen zu wollen, wie sich die Intelligenz der heutigen Bevölkerung Chinas zu der der Chinesen vor 3000 und mehr Jahren verhält. Raum und Zeit gestatten uns nur, die Verhältnisse in einem Teile Europas in Betracht zu ziehen, und auch hierbei ergeben sich schon sehr bedeutende Schwierigkeiten.

Um mit Sicherheit einen intellektuellen Fortschritt konstatieren zu können, wäre es notwendig, das geistige Verhalten einer Bevölkerung oder einer Rasse in zwei zeitlich weit auseinander liegenden Perioden vergleichen zu können. Dies ist aber wenigstens für die europäische Bevölkerung im großen und ganzen unmöglich. Die Einwohnerschaft unseres Kontinents hat in den letzten 2000 Jahren durch innere und äußere Kriege, Seuchen, Ein- und Auswanderung und insbesondere durch Rassenmischungen eine gewaltige Änderung erfahren, so daß, wenn wir etwa von Skandinavien absehen, die gegenwärtigen Einwohner der einzelnen Länder nur zum kleineren oder kleinsten Teile als Nachkömmlinge derjenigen vor 2000 Jahren zu betrachten sind. So ist z. B. das Volk der Hellenen, dessen Leistungen auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft noch gegenwärtig unsere Bewunderung erregen, so gut wie ausgestorben. Die gegenwärtige Bevölkerung Griechenlands ist ein Rassen- oder Völkergemenge, das nicht als Erbe hellenischen Geistes angesehen werden kann.

Auch die Geschlechter jener Italiker, welche durch ihre kriegerische Tüchtigkeit das römische Weltreich begründeten, sind durch innere und äußere Kriege fast ganz aufgerieben worden, und unter den heutigen Italienern dürften sehr wenige sich mit Recht rühmen können, altrömisches Blut in ihren Adern zu haben. Dazu kommt, daß wir über den Kultur- und Intelligenzzustand der Einwohnerschaft eines großen Teiles von Europa vor 2000 und mehr Jahren doch nur mangelhaft unterrichtet sind und in den einzelnen mitteleuropäischen Ländern die Massen nicht überall auf gleichem intellektuellem Niveau stehen.

Wir ersehen aus dem Angeführten, daß, selbst wenn wir uns bei der Untersuchung der Frage auf die uns in erster Linie interessierende Bevölkerung Mitteleuropas beschränken und dabei von der jüngeren Steinzeit ausgehen, wir nur zu Schlüssen von sehr bedingter Gültigkeit gelangen können. Es läßt sich dabei nur eruieren, ob und inwieweit die Bevölkerung Mitteleuropas in ihrer intellektuellen Entwicklung von der jüngeren Steinzeit bis zur Gegenwart Unterschiede aufweist, und es muß dabei außer Betracht bleiben, daß schon die mittelalterliche Bevölkerung dieses Teiles unseres Kontinents sich nicht lediglich aus Nachkommen der Steinzeitmenschen zusammensetzte und dies noch weniger für die Gegenwart gilt. Diese Sachlage veranlaßt uns, zuzusehen, ob wir nicht auch noch auf einem andern Wege Aufschlüsse über die uns beschäftigende Frage erlangen können, nämlich durch einen Vergleich der intellektuellen Leistungen der europäischen Kulturvölker des Altertums mit denen der Kulturvölker der Gegenwart.

Wenn wir das für unser Problem in Betracht kommende Material einer Prüfung unterziehen, so stoßen wir auf zwei Reihen von Tatsachen, von welchen die eine für eine Hebung des intellektuellen Niveaus der Massen innerhalb der vorwürfigen ausgedehnten Zeitperiode spricht, während die andere die Berechtigung einer solchen Annahme zweifelhaft erscheinen läßt. Unter den Tatsachen der ersten Reihe beansprucht zunächst der Abstand zwischen der Kultur der jüngeren Steinzeit und der der Gegenwart unsere Aufmerksamkeit. Dieser Abstand ist so gewaltig, daß er den Gedanken aufdrängt, es müsse mit dem Umschwung in den äußeren Lebensverhältnissen ein bedeutender Fortschritt auf intellektuellem Gebiet einhergegangen sein. Allein auch wenn wir unseren Blick nicht so weit in die Vergangenheit zurückschweifen lassen und den Kulturzustand vor etwa 1000 Jahren berücksichtigen, so ist der Unterschied von der Gegenwart ebenfalls so bedeutend, daß er ähnliche Gedanken anregen mag, wie der Vergleich der jüngeren Steinzeit mit der Gegenwart. Wir dürfen uns hier jedoch nicht mit Annahmen begnügen, die nur auf allgemeinen Eindrücken beruhen. Wie wir schon an früherer Stelle andeuteten, ist man nur zu häufig geneigt, aus dem Stand der Kultur eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Zeit zu weit gehende Schlüsse auf das intellektuelle Verhalten der Kulturträger zu ziehen. Die Beziehungen der Kultur zur Intelligenz sind jedoch viel komplizierter, als gemeinhin angenommen wird, und wenn wir zu einiger Klarheit über dieselben gelangen wollen, müssen wir zusehen, wie die einzelnen Elemente unserer Kultur entstanden sind, wie sie sich verbreiteten und welchen Einfluß dieselben auf das Denkvermögen der Massen auszuüben vermochten.


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