[Die Ergebnisse vergleichender Untersuchungen von Schädeln der verschiedenen Perioden von der jüngeren Steinzeit bis zur Gegenwart. Brocas, Topinards, Buschans Ansichten.]


Als ein Argument, welches ebenfalls für ein allmähliches Anwachsen der Intelligenz sprechen soll, wurde von Buschan1) das Ergebnis vergleichender Untersuchungen des Binnenraumes von Schädeln aus verschiedenen Zeiträumen von der jüngeren Steinzeit bis zur Gegenwart angeführt. Der Schädelbinnenraum entspricht dem Volumen des Gehirns und man darf, wie Buschan mit Recht betont, annehmen, daß dieses Organ wie andere Organe erhöhten funktionellen Anforderungen, die an dasselbe gestellt werden, sich mehr und mehr akkommodiert. Dies geschieht durch Wachstum und Verfeinerung der Organisation. Wenn auch bei dem Einzelindividuum der Einfluß vermehrter geistiger Tätigkeit auf die Beschaffenheit, speziell den Umfang des Gehirns nur ein sehr geringer sein kann2), so ist doch der Gedanke nicht abzuweisen, daß eine höhere Anspannung der Geisteskräfte, durch eine lange Reihe von Generationen fortgesetzt, allmählich zu einer ausgeprägten Volumenzunahme führen mußte, die in der Größe des Schädelbinnenraumes ihren Ausdruck fand. Gegen diese Auffassung wurde allerdings die Theorie, daß erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden können, von einzelnen Seiten geltend gemacht. Diese Theorie ist jedoch schon lange durch eine Reihe von Beobachtungen, insbesondere solche auf pathologischem Gebiet, widerlegt, und wir werden an späterer Stelle sehen, daß die Annahme, welche in der geistigen Tätigkeit die Haupttriebkraft für die Fortschritte der Gehirnentwicklung vom Urmenschen bis zum Kulturmenschen der Gegenwart erblickt, ungleich mehr für sich hat, als die Hypothesen, die man derselben entgegenstellte.

Vergleichende Untersuchungen über aus verschiedenen Epochen stammende Schädel einer bestimmten Bevölkerung wurden zuerst von Broca und Topinard unternommen. Broca benutzte das Schädelmaterial aus Pariser Kirchhöfen und verglich eine Reihe von Schädeln aus einer Grabstätte, die dem 13. Jahrhundert angehörte, mit solchen, die aus einem Kirchhofe des 19. Jahrhunderts entnommen waren. Er glaubte aus seinen Befunden schließen zu dürfen, daß im Laufe der Jahrhunderte der Schädelinhalt, d. h. das Gehirn der Pariser Bevölkerung erheblich zugenommen habe. Die mittlere Kapazität der untersuchten neuzeitlichen Schädel war um 35,55 ccm größer als die der mittelalterlichen. Topinard, der Brocas Untersuchungen fortsetzte, kam zu ähnlichen Resultaten. Beide Beobachter wollten das Anwachsen des Schädelbinnenraumes auf Zunahme der Intelligenz und Kultur der Pariser Bevölkerung zurückführen.

Umfassendere, hierher gehörige Untersuchungen, die auch nach einer zuverlässigeren Methode ausgeführt wurden, hat Buschan vorgenommen. Der Autor stellte sich als Aufgabe, zunächst für die französische Bevölkerung zu ermitteln, ob von der jüngeren Steinzeit, aus der namentlich in Frankreich zahlreiche Schädel erhalten sind, bis zur Gegenwart eine Zunahme des Schädelbinnenraumes stattgefunden hat, die sich als eine Folge fortschreitender Kultur deuten ließe. Zu diesem Zweck trug er aus der Literatur die Kapazitätszahl neolithischer Schädel Frankreichs zusammen und verglich diese Ziffern mit den von Broca gefundenen entsprechenden Werten von Schädeln des Mittelalters und der modernen Pariser Bevölkerung. Der Autor glaubte hiermit "der Forderung, auf einer geographisch möglichst umgrenzten und gleichzeitig im allgemeinen homogenen Bevölkerung seine Untersuchungen aufgebaut zu haben, möglichst Rechnung zu tragen".

Das Ergebnis stellt sich nun für Frankreich folgendermaßen: Bei den 188 neolithischen Schädeln fällt die höchste Anzahl (30%) auf die Gruppe 1301 —1400 ccm, bei den Parisern des 12. Jahrhunderts (37%) auf die nächst höhere Gruppe 1401—1500 ccm und bei den modernen Parisern wird der höchste Prozentsatz (47%) noch weiter nach oben verschoben, nämlich in die Gruppe 1501—1600 ccm. Unter 1200 ccm Kapazität waren bei den Steinzeitschädeln 17%, unter 1300 ccm 21% anzutreffen; hingegen war kein Schädel der beiden weiteren Abteilungen an einer so niedrigen Ziffer beteiligt. Umgekehrt ging über 1700 ccm kein neolithischer Schädel hinaus, über 1800 kein Schädel des 12. Jahrhunderts, wohl aber noch 5 % der modernen Pariser Bevölkerung. Buschan hat seine Untersuchung auch auf rheinländische Schädel ausgedehnt und dabei als Material aus der neolithischen Zeit 33 Schädel des Wormser Paulus-Museums, 36 Schädel aus den ersten Jahrhunderten nach Chr., 390 Schädel des 10. bis 12. Jahrhunderts und 429 Schädel der modernsten Zeit, alle im Rheingebiet gefunden, verwertet. Das Resultat stimmt nicht mit dem überein, was die Prüfung der französischen Schädel ergeben hatte. "Einen Horizontalumfang über 515 mm wiesen unter den Schädeln der jüngeren Steinzeit 45%, aus der Zeit nach Christus 61%, des 10. bis 12. Jahrhunderts 44%, des Mittelalters 54% und der Neuzeit 52,1% auf; für die Maße unter 515 mm lauten die entsprechenden Zahlen 54,6%, 38,3%, 55,8%, 45,9% und 47,9%. Hieraus wäre zu folgern, daß im ganzen die Schädelkapazität von der jüngeren Steinzeit bis zur Gegenwart nur sehr wenig zugenommen hat, während einzelner Perioden innerhalb dieses Zeitraums zurückging und daß die barbarischen Germanen um die Zeit von Christi Geburt größere Schädel besaßen, als die Rheinländer der Gegenwart".

Gegen die Folgerungen, welche Buschan aus den angeführten Befunden zieht, "daß zunehmende Kultur das Hirnvolumen vermehrt und den Menschen durch Steigerung seiner geistigen Fähigkeiten auf eine höhere Intelligenzstufe erhebt", sind von Röse3) und Woltmann gewichtige Einwände erhoben worden. Beide Autoren bestreiten, daß die Kultur das Gehirn vergrößert und die Zunahme sich auf die Nachkommenschaft vererbt. Woltmann will aber damit keineswegs leugnen, "daß in einer kulturell hochdifferenzierten Gesellschaft die Gehirne größer sind, als in einer weniger entwickelten". Aber dies hat nach seiner Ansicht seine Ursache in Keimvariationen und Auslese und darauf beruhender erblicher Steigerung von Gehirnvariationen. Diese Gehirne sind es, welche nach seiner Meinung die Kultur schaffen und erhöhen. Belege für diese Behauptungen werden jedoch von dem Autor nicht beigebracht. Gegen die Buschansche Annahme, daß bei der französischen Bevölkerung der Binnenraum des Schädels, d. h. das Gehirnvolumen unter dem Einfluß der Kulturentwicklung zugenommen habe, macht Woltmann geltend, daß die zum Vergleiche herangezogenen neolithischen, mittelalterlichen und neuzeitlichen Schädel verschiedenen Rassen angehörten, daß speziell die Zunahme des Schädelbinnenraumes vom Mittelalter bis in die Neuzeit auf die Kreuzung der langköpfigen mit der kurz-köpfigen, alpinen Rasse zurückzuführen sei und mit den Fortschritten der Kultur nichts zu tun habe. Eine gewisse Stütze erfährt diese Annahme durch die Angabe Kollmanns, daß die heute bestehenden Menschenrassen innerhalb der letzt verflossenen 5000 Jahre in ihrer äußeren Gestalt keine nennenswerte Veränderung erfahren haben und eine solche auch an Schädeln und Skeletten der jüngeren Steinzeit kaum nachweisbar ist.

Auch Müller de la Fuente4) erklärt, "daß man nicht angeben könne, ob in historischer Zeit, also etwa innerhalb der letzten 10000 Jahre beim männlichen Gehirne sich meßbare Fortschritte gezeigt haben, da sich die Schädel der ältesten Epoche nicht bloß der historischen, sondern auch der prähistorischen jüngeren Steinzeit bezüglich ihrer Kapazität gegen die der jetzigen wenig oder nicht geändert haben5).

 

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1) Buschan: "Gehirn und Kultur", Wiesbaden 1905. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Nr. XLIV.

2) Da das Schädelwachstum beim Menschen mit dem 21. Lebensjahre abgeschlossen ist, ist eine Zunahme des Gehirnurnfangs infolge erhöhter geistiger Tätigkeit nach dieser Zeit, jedenfalls nur in sehr geringem Maße möglich.

3) Röse, Archiv für Rassen- und Geschlechtsbiologie 1905, S. 746 u. f.

Woltmann, Politisch-anthropologische Revue, 5. Jahrgang, S. 401.

4) Müller de la Fuente: "Die Vorgeschichte der Menschheit". Wiesbaden 1906, S. 131.

5) Die Fassung obigen Satzes kann nicht als ganz einwandfrei bezeichnet werden. Der Autor wollte wohl sagen, daß sich die Schädel der neueren Zeit gegen die der ältesten Epoche wenig oder nicht geändert haben.


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