[Das Verhalten der Intelligenz bei Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie, Bromintoxikation. Wirkungen des habituellen Alkoholmißbrauchs.]


Unter den Neurosen bedingt die Neurasthenie zwar häufig eine Herabsetzung der intellektuellen Leistungsfähigkeit, doch ist diese im allgemeinen nicht von einer Art, daß sie zur Beschränktheit führt. Die Neurastheniker klagen zwar vielfach, daß sie dumm oder selbst blöde geworden seien, daß ihnen kompliziertere geistige Arbeiten schwer fallen oder überhaupt nicht mehr gelingen, daß ihnen plötzlich der Faden ausgehe, wenn sie etwas berichten wollen, wohlbekannte Namen nicht einfallen, daß sie bei der Lektüre den Sinn des Gelesenen schwer oder nicht auffassen und dergleichen mehr. Hiebei handelt es sich zweifellos um eine Abschwächung der geistigen Leistungen, die jedoch in ihrer Intensität schwankt und nur auf einer andauernden Ermüdung oder Erschöpfung des Denkapparats, nicht einer tieferen Schädigung desselben beruht und daher auch gewöhnlich einer Ausgleichung fähig ist. Das durch Neurasthenie bedingte Manko auf intellektuellem Gebiet betrifft gewöhnlich weit mehr die quantitative als die qualitative Seite und geht, was letztere betrifft, wie schon angedeutet wurde, von vorübergehenden Steigerungen des Leidens abgesehen, nicht so weit, daß man von Beschränktheit sprechen kann.

Bei Hysterischen findet sich mitunter eine intellektuelle Minderwertigkeit, die bis zum ausgesprochenen Schwachsinn gehen kann. Ein hervorragender französischer Autor, Pierre Janet, hat geglaubt, als das Wesentliche der Hysterie eine Art von Geistesschwäche betrachten zu dürfen. "Die Hysterischen," bemerkt der Autor, "haben wie eine große Kategorie von Kranken nur das Denkvermögen eines Kindes, und der Charakter der Hysterischen ist nichts anderes als der Charakter der Geistesschwachen, der Kinder." Diese Auffassung kann nur durch Zufälligkeiten des Materials, an welchem Janet seine Studien machte, sich erklären. Von den Hysterischen, denen man in der Alltagspraxis begegnet, zeigt jedenfalls der größere Teil normale, manche derselben sogar hervorragende geistige Begabung, woraus der Schluß sich ergibt, daß die Beschränktheit, der wir bei an Hysterie Erkrankten begegnen, mit dem Wesen dieses Leidens nichts zu tun hat1).

Die Epilepsie führt bei von Haus aus wohlbegabten Individuen zu einer Schädigung der Intelligenz nur dann, wenn die Anfälle, in welchen das Leiden sich vorzüglich äußert, häufiger auftreten. Individuen, welche nur in größeren Zwischenräumen von vereinzelten epileptischen Attacken heimgesucht werden und nicht erblich schwer belastet sind, können ihre geistigen Kräfte selbst bei vieljähriger Dauer des Leidens ungeschmälert bewahren. So hatte ich selbst in jüngster Zeit Gelegenheit, einen 70jährigen Herrn kennen zu lernen, der, obwohl seit seinem 18. Lebensjahre infolge eines Sturzes an Epilepsie leidend, sich noch vollster geistiger Frische erfreut. Bei häufigen, insbesondere serienweise auftretenden Anfällen wird die intellektuelle Abstumpfung, die sich anfänglich nur vorübergehend an die Anfälle knüpfte, allmählich dauernd, so daß sich ein Zustand mehr oder minder weitgehender Beschränktheit entwickelt. Der geistige Rückgang kann auch, wenn der Kranke länger am Leben bleibt, selbst bis zur völligen Demenz fortschreiten. Häufig wird bei Epileptischen, welche mit Brompräparaten behandelt werden, die durch das Leiden bedingte Abnahme der Geisteskräfte mit Unrecht auf den Bromgebrauch zurückgeführt. Es ist jedoch nicht in Abrede zu stellen, daß übermäßige Bromgaben einen Zustand ausgesprochener Stupidität (Gedächtnisschwäche und Erschwerung aller geistigen Operationen) herbeiführen können, was sich aus der hemmenden Einwirkung des Broms auf die kortikalen Vorgänge erklärt.

Ungemein viel häufiger als durch Brom werden durch habituellen übermäßigen Alkoholgenuß die Geisteskräfte in einer Weise geschädigt, die allmählich zu einem Zustand andauernder Beschränktheit führt. Kraepelin bemerkt hierüber (Lehrbuch der Psychiatrie): "Verhältnismäßig am wenigsten pflegt zunächst die Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit in die Augen zu fallen. Indessen beginnt sich regelmäßig beim Trinker eine merkliche Herabsetzung seiner Arbeitskraft herauszubilden. Eine wesentliche Rolle scheint dabei die Steigerung der Ermüdbarkeit zu spielen. Es wird ihm schwer, seine Aufmerksamkeit längere Zeit anzuspannen, neue, ungewohnte Eindrücke zu verarbeiten, sich in verwickeltere geistige Aufgaben hineinzufinden. Er liebt es daher, sich in bekanntem Geleise zu bewegen, hat weder Neigung noch Fähigkeit zu schöpferischer Gedankenarbeit. Infolgedessen verengt sich sein Gesichtskreis; seine geistige Ausbildung steht zunächst still, macht aber dann Rückschritte und führt zur Verarmung seines Vorstellungsschatzes und Abnahme seiner Urteilsfähigkeit. Dieser Vorgang wird ganz besonders begünstigt durch die niemals fehlenden Störungen des Gedächtnisses."

Wir können uns über die verdummenden Wirkungen anhaltenden, übermäßigen Alkoholgenusses nicht wundern, da schon bescheidene Alkoholgaben (etwa 1 bis 2 Liter Bier entsprechend) nicht nur die Schnelligkeit, sondern auch die Qualität der intellektuellen Leistungen herabsetzen und nach dem Genuss größerer Alkoholmengen noch nach 24—36 Stunden eine Verminderung der geistigen Arbeitskraft zu konstatieren ist.

 

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1) Übereinstimmend mit meinen Beobachtungen erklärt Freud: "daß man unter den Hysterischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischsten Menschen finden kann".


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