[Die Notwendigkeit der Berücksichtigung des Gemüts und insbesondere der Moral bei der Hebung der Volksbildung. Die Schaffung von Volksvorstellungen in Frankfurt, Berlin und anderen Städten.]


Da nur jene Bildung als echt oder wahr betrachtet werden kann, an der neben der Entwicklung des Verstandes auch die des Gemüts einen mehr oder minder großen Anteil hat, mußte man schon lange zu der Erkenntnis gelangen, daß die auf Hebung der Volksbildung gerichteten Bestrebungen sich nicht auf die Förderung der intellektuellen Leistungsfähigkeit der Massen beschränken dürfen, sondern auch das Gemütsleben zu berücksichtigen und daher auch die Anregung und Veredelung des Sinnes für ideelle (ästhetische) Genüsse zum Ziele zu setzen habe. Soweit in dieser Beziehung durch Sorge für gute Lektüre, Verbreitung der Schätze unserer Literatur auf die unteren Volksschichten gewirkt werden kann, ist, wie wir schon sahen, bereits durch die Errichtung zahlreicher Volksbibliotheken und die Herstellung und Vertrieb billiger Ausgaben wertvoller Werke sehr viel geschehen. Auf dem Gebiet des Theaterwesens ist dagegen vorerst im Verhältnis zu dem bestehenden Bedürfnisse nur sehr wenig erreicht worden, obwohl gerade die Bühne mit ihren so mächtig auf Phantasie und Gemüt wirkenden Apparaten besonders geeignet ist, auch bei Ungebildeten nachhaltig die Empfänglichkeit und den Sinn für ideelle Genüsse anzuregen. Es hängt dies damit zusammen, daß die Theater mit Ausnahme der früheren Hofbühnen und der Stadttheater zumeist allmählich geschäftliche Unternehmungen geworden sind, für deren Repertoir der Geschmack des Publikums und damit die Aussicht auf Rentabilität maßgebend wurde, was mit einer Berücksichtigung der Interessen der Volksbildung nicht gut zu vereinbaren war. Doch ließen sich wenigstens in den Großstädten einzelne Theater bestimmen, zu sehr billigen Preisen Vorstellungen für die Arbeiterklasse zu geben. Ein gewisser, aber immerhin noch sehr bescheidener Fortschritt in der Veranstaltung von Volksvorstellungen wurde durch die Tätigkeit einzelner Organisationen erzielt, welche sich die Aufgabe gestellt hatten, die Leistungen der Bühne für die Hebung der Volksbildung nach Kräften zu verwerten. Der erste Schritt in dieser Richtung geschah in Frankfurt a. M. durch den Ausschuß für Volksvorstellungen. "Auf Grund eines Vertrages zwischen dem Magistrat und der Neuen Theater-Aktien-Gesellschaft, der Pächterin der Städtischen Theater, fanden erstmalig im Jahre 1894/95 Volksvorstellungen im Opernhaus und Schauspielhaus statt. Es waren die ersten in Deutschland. Seitdem wurde durch die fortgesetzten Bemühungen des Ausschusses die Zahl auf 22 Vorstellungen erhöht." In Berlin wirkte in gleicher Richtung die Begründung mehrerer Unternehmungen, Freie Volksbühne, Neue freie Volksbühne und das Schillertheater. In der Folge wurden in vielen Großstädten durch die Tätigkeit von Organisationen oder auch unabhängig von solchen die Veranstaltung von Volksvorstellungen zu einer mehr oder minder ständigen Einrichtung gemacht. Da hierdurch für die Bevölkerung der mittleren und kleinen Städte nichts geschehen war, suchte man durch die Schaffung von Wandertheatern mit Erfolg einen Ersatz zu liefern. Zwei dieser Theater haben sich durch ihre künstlerischen Leistungen besondere Verdienste erworben: Das seit 1907 bestehende Märkische Wandertheater und das Rheinisch-Mainische Verbandstheater. Das Märkische Wandertheater hat in 5 Jahren in 194 Städten 53 Stücke zur Aufführung gebracht, darunter viele klassische Dramen.

Auch die Veranstaltung von guten Konzerten, deren Besuch durch sehr billige Preise der großen Masse zugänglich gemacht wird, hat man sich in vielen Städten angelegen sein lassen, und die Schaffung städtischer Orchester in einer größeren Anzahl deutscher Städte erleichtert es wesentlich, den Genuß guter musikalischer Aufführungen auch den Massen zugänglich zu machen. In neuerer Zeit hat man auch in den Filmvorführungen mit begleitenden Vorträgen — natürlich nur bei zweckmäßiger Auswahl des Stoffes — ein für die Volksbildung wertvolles Mittel erkannt und von demselben schon entsprechenden Gebrauch gemacht. Kinematographische Vorführungen sind auch schon von manchen Volkshochschulen unter die Zahl ihrer Unterrichtsmittel aufgenommen worden. Bei der Ausdehnung, welche die auf Hebung der Volksbildung gerichteten Bestrebungen allmählich genommen haben, kann es nicht auffällig erscheinen, daß man auch daran ging, an zahlreichen Orten Volksunterhaltungsabende zu veranstalten, in welchen man vorwaltend durch musikalische und deklamatorische Vorträge den Besuchern einen Kunstgenuß zu verschaffen suchte, der geeignet war, ihnen Gesdimack für derartige edlere Genüsse einzuflößen. Besonders anerkennenswert ist es, daß manche industrielle Großbetriebe, so der Kruppsche, die Höchster Farbwerke etc. Veranstaltungen derartiger Unterhaltungsabende für ihre Angestellten und Arbeiter in die Hand genommen haben.

So mannigfaltig auch die der Volksbildung dienenden Veranstaltungen sind, die wir im Vorstehenden kurz Revue passieren ließen, so dürften doch von manchen Seiten Zweifel darüber geäußert werden, ob damit einem der wichtigsten Bedürfnisse im Gebiet der Volksbildung, der Hebung der Volksmoral, überhaupt oder genügend Rechnung getragen sei. Dieses Bedürfnis ist heutzutage stärker und dringlicher als je zuvor. Die Einsichtsvollen in allen Kreisen unserer Bevölkerung, in Stadt und Land, sind darüber einig, daß die Moral unseres Volkes unter den Einflüssen des Krieges und der Revolution gesunken1) und es eine sehr schwierige Aufgabe ist, diesem Übelstande abzuhelfen. Mit dem Unterricht in einer Morallehre, wie er den Kindern der freireligiösen Eltern erteilt wird, ist bei Erwachsenen wenig zu erreichen; ein solcher Unterricht übt auch wenig Anziehungskraft aus und ist daher auch unter den Lehrgegenständen der Volkshochschulkurse mit Recht nicht vertreten2). Trotzdem läßt sich nicht behaupten, daß das Unterrichtssystem der Volkshochschule für die sittliche Förderung der Hörer nichts leiste. Unter den Fächern, die allgemeinen Gegenstand des Volkshochschulunterrichts bilden, findet sich eine Anzahl solcher, die dera Dozenten genügend Gelegenheit geben, die herrschende Unmoral scharf zu beleuchten und die sittlichen Gefühle und Begriffe der Hörenden lebhaft anzuregen und zu stärken. Bei dem moralischen Rückschritt unserer Bevölkerung handelt es sich wahrscheinlich weit weniger um eine Schwächung der sittlichen Gefühle und Begriffe, als vielmehr um eine Verminderung: der seelischen Kräfte, welche die antimoralischen (atavistischen) Triebe zu hemmen geeignet sind (Verringerung oder Schwinden der Furcht vor Strafe, der Furcht vor Einbuße an Achtung unter den Mitmenschen etc.). Die Verstärkung dieser hemmenden Kräfte zur normalen Intensität bedeutet zwar an sich noch keine entsprechende Hebung des sittlichen Niveaus, kommt aber in ihren praktischen Folgen einer solchen gleich und ist auch von den Lehrenden, die sich ihrer Aufgabe in vollem Umfange entledigen wollen, bei einzelnen Gegenständen ohne besondere Schwierigkeiten zu erreichen (so bei dem Unterricht in Geschichte und Literatur, auf staatsbürgerlichem und wirtschaftlichem Gebiet etc.). Man muß nur im Auge behalten, daß die Hebung der Sittlichkeit nicht an den Unterricht in irgend einem einzelnen Fach, sondern an die Gesamtheit jener Gegenstände gebunden ist, die für die Erreichung der Ziele des Volkshochschulunterrichts überhaupt in Betracht kommen.

 

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1) Es sind Anzeichen dafür vorhanden, daß es bei den anderen am Weltkrieg beteiligten Nationen in diesem Punkte nicht viel besser ist.

2) Ich meine damit eine Morallehre, ähnlich der für Kinder als Ersatz des Religionsunterrichts berechneten. Vorträge über Ethik als philosophisches Fach sind selbstverständlich vom Volkshochschulunterricht nicht ausgeschlossen.


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