[Die Leistungen intellektuell Minderwertiger außerhalb des Gebiets ihrer speziellen Fähigkeiten. Begabung und Schulkenntnisse. Die Bedeutung des durch Erfahrung erworbenen Wissens.]


Wir haben an früherer Stelle bereits die Kriterien der Dummheit besprochen. Wenn wir es trotzdem nicht für überflüssig erachten, einem Gebrauch der medizinischen Literatur folgend, hier der Erkennung der Dummheit noch eine kurze besondere Besprechung zu widmen, so geschieht es deshalb, weil die Unterscheidung der normalen intellektuellen Minderwertigkeit von den besseren Begabungsgraden zuweilen, von den tiefer stehenden, dem Gebiet des Pathologischen angehörenden, dem Schwachsinn, sogar häufig auf Schwierigkeiten stößt, die eine Quelle zum Teil schwerwiegender Irrtümer bilden. Wir haben den Umstand ebenfalls schon an früherer Stelle berührt, daß bei den Beschränkten auf Grund angeborener Veranlagung einzelne besondere Talente bestehen oder durch Übung und Unterweisung einzelne Fähigkeiten besonders ausgebildet sein mögen. Hiedurch wird das Urteil über die Gesamtbegabung des Individuums nicht selten irre geleitet. Wenn man jedoch die intellektuellen Leistungen der Betreffenden, die nicht von ihren besonderen Talenten abhängen und nicht dem Gebiet ihrer alltäglichen (beruflichen) Beschäftigung angehören, einer näheren Prüfung unterzieht, kann deren Minderwertigkeit in der Regel keinem Zweifel unterliegen. Der Besserbegabte ist imstande, auch über kompliziertere Angelegenheiten, die seinem Beruf und dem Kreis seiner gewöhnlichen Interessen nicht angehören (von den Fällen abgesehen, die Spezialkenntnisse erheischen), ein zutreffendes Urteil sich zu bilden, während der Beschränkte dies nur ausnahmsweise vermag. Seine Fähigkeiten reichen im allgemeinen nur zur Beurteilung ihm fernerliegender einfacher Verhältnisse aus. Der Besserbegabte ist auch viel eher imstande, die Grenzen seiner Urteilsfähigkeit zu erkennen, als der Beschränkte. Wo ersterer sich außerstand sieht, eine bestimmte Ansicht zu gewinnen, weil ihm die erforderlichen Grundlagen fehlen, ist der Beschränkte mit seiner Meinung oft rasch fertig, da er gewohnt ist, aus unzulänglichen Voraussetzungen Schlüsse zu ziehen.

Ebenso wie einzelne bessere, auf bestimmte Gebiete sich beschränkende Leistungen zu einer zu günstigen Beurteilung, so können auch einzelne intellektuelle Mängel zu einer zu ungünstigen Taxierung der Gesamtbegabung Veranlassung geben. In dieser Hinsicht wird dem Mangel an Schulkenntnissen, d. h. von Kenntnissen, die gewöhnlich in der Schule erworben werden, — auffällige Schwäche in der Orthographie, Unbeholfenheit im Rechnen, Fehlen historischer und geographischer Kenntnisse — nicht selten eine irrtümliche Bedeutung beigelegt. Die Mangelhaftigkeit der Schulkenntnisse kann auf Faulheit des Schülers, Vernachlässigung des Schulbesuches oder Unzulänglichkeit des Unterrichts beruhen; letzteren Mißständen begegnet man auch bei uns auf dem Lande nicht selten, in außerdeutschen Ländern noch viel häufiger. Die Kenntnis geographischer und geschichtlicher Daten kann infolge von Gedächnisschwäche und mangelnder Reproduktion durch Lektüre und andere Auffrischungsgelegenheiten verloren gehen. Personen, deren Beruf keine Übung im Rechnen mit sich bringt, können in letzterem eine Unbeholfenheit an den Tag legen, die in keinem Verhältnis zu ihren sonstigen Fähigkeiten steht1). Am wenigsten sind orthographische Fehler für die Annahme intellektueller Minderwertigkeit eines Individuums zu verwerten. Es gibt Personen, die kaum ein Wort richtig schreiben können, und doch, wie man zu sagen pflegt, keineswegs auf den Kopf gefallen sind, während viele Beschränkte in der Rechtschreibung sich wohlbeschlagen erweisen. Selbstverständlich muß bei der Bewertung mangelhafter Schulkenntnisse der Bildungsgrad des Individuums Berücksichtigung finden. An Personen, die nur Elementarunterricht genossen haben, ist ein anderer Maßstab anzulegen, als an solche, die höhere Lehranstalten besuchten.

Von größerer Bedeutung als das Maß der Schulkenntnisse für die Beurteilung der intellektuellen Begabung ist insbesondere bei Ungebildeten der Umfang des durch Erfahrung erworbenen Wissens, wobei natürlich die Lebensverhältnisse des Individuums in Betracht kommen. Ein Mann, der von den wichtigsten staatlichen und kommunalen Einrichtungen keine einigermaßen zutreffende Vorstellung besitzt, der von den politischen Parteien und den bedeutendsten politischen Ereignissen der Gegenwart nichts weiß, darf als beschränkt angesehen werden, während die gleiche Unkenntnis bei einer Frau nicht diesen Schluß rechtfertigt, da diese weniger Veranlassung hat, sich um die betreffenden Angelegenheiten zu kümmern.

 

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1) Bemerkenswert ist die Tatsache, die mir von dem schon früher erwähnten Schulmann mitgeteilt wurde, daß die meisten Schüler im Rechnen zurückbleiben und das Jahresziel nicht erreichen und nicht wenige 2, 3 und mehr Jahre brauchen um die Zahlen bis 20 allseitig beherrschen zu lernen, was schon im ersten Schuljahr erreicht werden sollte. Es scheint demnach, daß die rechnerische Begabung häufig wenig entwickelt ist.


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