[Erhöhte Gefährlichkeit der Leidenschaften bei Beschränkten.]
Was für die Gefühle im Allgemeinen zutrifft, gilt für den als Leidenschaft bezeichneten andauernden Gefühlszustand in ganz besonderem Maße.
Jede Leidenschaft hat die Eigentümlichkeit, daß sie den geistigen Gesichtskreis einengt, indem sie das Interesse des Individuums übermächtig auf einen Gegenstand konzentriert und dadurch die Berücksichtigung anderer, selbst wichtiger Momente verhindert oder wenigstens erschwert. Für den Beschränkten ist die Leidenschaft begreiflicherweise ungleich gefährlicher, als für den Intelligenten, da dieser vielfach wenigstens die Fähigkeit besitzt, gegen die Leidenschaft seinen Verstand zur Geltung zu bringen und dadurch dem Einfluss ersterer auf sein Handeln Schranken zu setzen. Das ist dem Beschränkten gewöhnlich unmöglich. Er verfällt der Leidenschaft wie einem Dämon, dessen er sich in keiner Weise erwehren kann. Sein an sich schon beschränkter Horizont wird dadurch in einer Weise eingeengt, daß er blind und taub wird für das, was jedermann sieht und hört, daß er Handlungen begeht, die mit seinem Charakter und seinen Gewohnheiten unvereinbar erscheinen, daß er die Warnungen von Verwandten und Freunden, die ihn vor Unheil bewahren wollen, nicht nur in den Wind schlägt, sondern sogar als Äußerungen übler Gesinnung betrachtet. Am häufigsten macht die Leidenschaft in der Form der Liebe ihren verhängnisvollen Einfluß geltend. Auch der Intelligente mag an dem Gegenstand seiner Neigung ungleich mehr Vorzüge und weniger Mängel finden, als andere Menschen, auch er mag, um eine Vereinigung mit dem Gegenstand seiner Neigung zu erlangen, wichtige Interessen beiseite setzen; allein eine so vollkommene Blindheit für die physischen und insbesondere die intellektuellen und moralischen Mängel des Liebesobjekts, wie wir sie bei den Beschränkten häufig finden, treffen wir bei den Intelligenten, von seltenen Ausnahmen abgesehen, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, nicht. Und zu der Blindheit für die Mängel der Verehrten gesellt sich bei dem Beschränkten noch oft völlige Gleichgültigkeit gegen die sozialen und wirtschaftlichen Folgen eines Verhältnisses oder einer Verbindung mit derselben, auch wenn diese den Ausschluß aus der besseren Gesellschaft, den Verzicht auf eine Karriere oder wirtschaftlichen Ruin nach sich zieht. Der Beschränkte heiratet eine Kokotte, ohne an ihrer Vergangenheit Anstoß zu nehmen, ohne die sozialen Folgen einer solchen Verbindung irgendwie zu berücksichtigen. Er opfert unter Umständen einer Tänzerin oder Schauspielerin sein Vermögen, um dann wie eine ausgepreßte Zitrone beiseite geworfen zu werden. Er stürzt sich in Schulden, begeht mitunter sogar Verbrechen, um den Wünschen oder Forderungen seiner Geliebten Genüge zu leisten. Häufig wird auch bei dem Beschränkten die Liebe eine Quelle dauernder geistiger Unfreiheit und damit einer Steigerung seiner geistigen Inferiorität. Der dumme Liebende sieht alles durch die Brille seiner Frau, ihre Meinungen sind die seinigen, er vertritt das ungereimteste Zeug, wenn es von seiner Frau behauptet wird. Eine eigene Überzeugung kennt er nicht. Er haßt und liebt ohne allen Grund, weil seine Gattin solche Gefühle für eine gewisse Person hegt. Und diese Schwachköpfe werden von wenig verständigen Frauen noch häufig als Ideale von Ehemännern angesehen.