[In der jüngeren Steinzeit (Pfahlbauten) die Anfänge der jetzigen Kultur in ihren wesentlichen Elementen bereits vorhanden. Fortschritte dieser Kultur in der Bronzezeit. Kulturzustände im 11. Jahrhundert n. Chr.]


Wenn wir nun nach diesen etwas weit abseits führenden Darlegungen zur Erörterung der Frage übergehen, inwieweit der Kulturfortschritt von der Zeit der Pfahlbauten bis zur Gegenwart die Annahme eines intellektuellen Fortschritts und damit einer Abnahme der Dummheit rechtfertigt, so ergibt sich Folgendes:

Schon in der jüngeren Steinzeit, welcher ein Teil der in Mitteleuropa aufgefundenen Pfahlbaureste angehört, waren die Anfänge unserer Kultur in allen wesentlichen Elementen vorhanden.*) Die Menschen lebten zum Teil wenigstens in aus mehreren Holzhütten bestehenden Siedelungen in Gewässern oder auf dem Lande (Anfänge staatlicher Organisation) und befriedigten ihre Nahrungsbedürfnisse nicht nur durch Jagd und Fischfang, sondern auch schon durch Getreidebau, Viehzucht, Sammeln wildwachsender Früchte und Kultur von Obstbäumen1). Ihre Kleidung fertigten sie aus Tierfellen und Flachsgeweben; Werkzeuge verschiedenster und zum Teil recht zweckmäßiger Art wurden aus Stein, Holz und Knochen, und Gefäße aus gebranntem Ton hergestellt. Auch an Schmuck für Männer und Frauen fehlte es nicht. Die Anfänge von Gewerbe und Handel waren ebenfalls gegeben; es wurden Steinwerkzeuge nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern auch für den Tauschhandel verfertigt und das Material hierzu teilweise aus entfernten Gegenden bezogen. Diese Kulturanfänge fanden in der Bronzezeit eine bedeutende Weiterentwicklung, die Bevölkerung war durchaus seßhaft, lebte in Dörfern und Einzelgehöften und betrieb Ackerbau und Viehzucht in ausgedehntem Maße. Waffen und Geräte, aus Bronze hergestellt, wurden mannigfaltiger, vollkommener und zum Teil mit Ornamenten versehen; auch die Schmuckgegenstände wurden zahlreicher und feiner ausgeführt. Metallgegenstände wurden sowohl durch Hausindustrie, wie durch wandernde Gießer für den Handel hergestellt, welcher der Bevölkerung die Erzeugnisse des Kunstfleißes und die Naturprodukte fremder Länder zuführte. Die Bestattungsart weist auf das Bestehen gewisser religiöser Vorstellungen hin. Wir sehen, die Leistungen jener vorgeschichtlichen Bevölkerung auf landwirtschaftlichem, gewerblichem und kommerziellem Gebiet waren bereits von einer Art, daß sie uns geradezu Respekt einflößen müssen; ganz besonders gilt dies für die Menschen der jüngeren Steinzeit. Wenn wir bedenken, welche Schwierigkeiten die Herstellung einer brauchbaren Steinaxt haben mußte und wie sauer bei dem Mangel einer Säge schon das Fällen eines Baumes und dann die weitere Verarbeitung des Holzes zu Bauten und Geräten mit Steinwerkzeugen werden mochte, dann müssen wir gestehen, daß die Menschen jener Periode nicht bloß eine bereits sehr entwickelte Intelligenz, sondern auch ein hohes Maß von Willensenergie besitzen mußten. Lassen wir ungefähr 2 Jahrtausende vorübergehen und betrachten wir die Kultur- und Lebensverhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung Deutschlands etwa im 11. Jahrhundert, die damals den weitaus größten Teil der Einwohnerschaft bildete und sich kulturell und intellektuell von den agrikolen Elementen im übrigen Mitteleuropa wohl nicht wesentlich unterschied, so ergibt sich folgendes Bild: Grund und Boden waren zu einem sehr großen Teil Eigentum des Adels und der Kirche geworden und ein bedeutender Prozentsatz der freien germanischen Bauern hatte sich in Hörige verwandelt — eine Veränderung, welche für deren geistige Kultur keineswegs vorteilhaft war. Die Landwirtschaft hatte Fortschritte gemacht. Neben dem Getreidebau wurden Gemüse- und Obstzucht eifrig betrieben und dem Flachsbau erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Wohnstätten und Kleider waren verbessert worden; an Stelle der rohgezimmerten, einen einzigen Raum für Menschen, Vieh und Vorräte enthaltenden Hütte war ein Holzbau mit mehreren Abteilungen getreten, Wohnhaus, Viehstall und Scheune. Bei den vornehmeren Grundbesitzern gab es neben dem Wohnhaus (Herrenhaus) eine ansehnliche Zahl von Nebengebäuden. Ackergeräte und Hausrat waren jedoch immer noch sehr einfach. Die landwirtschaftliche Produktion war für den damaligen Bevölkerungszustand keineswegs reichlich, so daß in Jahren des Mißwachses zahlreiche Menschen zugrunde gingen. Die Fortschritte in der materiellen Kultur, die wir bei der bäuerlichen Bevölkerung jener Zeit finden, waren ihrer Art nach nicht geeignet, an das Denkvermögen der einzelnen Individuen höhere Anforderungen zu stellen, als die Kultur der jüngeren Stein- und der Bronzezeit. Die religiösen Vorstellungen, die durch die Einführung des Christentums den Massen beigebracht wurden, waren auch nicht den alten heidnischen Anschauungen gegenüber so überlegen, daß man denselben eine Hebung der geistigen Fähigkeiten zuschreiben könnte, und so ergibt sich, daß für die Annahme eines ausgesprochenen intellektuellen Fortschrittes bei den Massen der Abstand zwischen der Kultur der Stein- und Bronzezeit und der des 11. Jahrhunderts nach Chr. keine genügende Grundlage liefert. Damit möchte ich jedoch nicht andeuten, daß inbezug auf die Intelligenz auf deutschem Boden innerhalb des in Frage stehenden mehrtausendjährigen Zeitraums alles beim gleichen geblieben war. Es gab wohl schon unter der Bevölkerung der jüngeren Stein- und Bronzezeit mehr und weniger intelligente Elemente, doch fehlt es uns an Anhaltspunkten für die Annahme, daß erstere an einzelnen Orten stärker vertreten waren. Im 11. Jahrhundert hat dagegen bereits eine Art territorialer Auslese und stärkere Anhäufung der intelligenteren Elemente an einzelnen Plätzen begonnen. Es waren die Klöster und die Städte, welche eine besondere Anziehungskraft auf die begabteren Individuen ausübten. In den Klöstern wurden Künste und Wissenschaften kultiviert, soweit kirchliche Obliegenheiten und Broterwerb es gestatteten. Sie waren die Bildungsstätten auch für jene, die nach höherer geistiger Kultur strebten, ohne sich dem geistlichen Stande zu widmen. In den Städten, deren Bewohner zum Teil noch der Landwirtschaft oblagen, gaben Handel, gewerbliche Tätigkeit und geselliger Verkehr Anstoß zu regerem Geistesleben. Wenn man diese Umstände berücksichtigt, darf man es wohl als wahrscheinlich bezeichnen, daß im 11. Jahrhundert bereits die Zahl der intellektuell höher stehenden Individuen nicht bloß absolut, sondern relativ gewachsen war, und unter diesen sich manche befanden, die an geistigen Fähigkeiten die Angehörigen der Stein- und Bronzezeit weit überragten2).

 

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1) Siehe Driesmann: Der Mensch der Urzeit, Stuttgart 1907.

2) So gering wir die Scholastik einzuschätzen vermögen, so ist doch die Annahme wohl gerechtfertigt, daß das Denkvermögen der bedeutenderen Scholastiker erheblich über dem der Masse der Stein- und Bronzezeitmenschen stand. Im 11. Jahrhundert begegnen wir aber schon mehreren hervorragenden Scholastikern: Anselm von Aosta, Erzbischof von Canterbury, Roscelin und Wilhelm von Champeaux.

*) Zusatz: Die Kultur der jüngeren Steinzeit erhielt sich an verschiedenen Orten verschieden lange. Nach den Mitteilungen des Katalogs des bayer. Nationalmuseums erstreckte sich die ältere Bronzezeit, die wahrscheinlich von der jüngeren Steinzeit durch eine kurze Periode des Kupfergebrauchs getrennt war, in Bayern von 1400 bis 1200 v. Chr. Man darf demnach annehmen, daß hier die jüngere Steinzeit mindestens bis um die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. sich erstreckte.


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