[Die Beziehungen zwischen Gehirnmasse und Intelligenz. Scheinbar widerstreitende Tatsachen. Die Bedeutung der Rindenausdehnung (Windungsentwicklung) und Rindendicke. Befunde bei Tieren. Die Beobachtungen von Jensen und Kaes.]


Daß die geistige Beschränktheit ebenso wie hervorragende Intelligenz ihren Grund in der Gehirnbeschaffenheit hat, ist eine Tatsache, welche niemand bezweifeln kann, der einen gesetzmäßigen Zusammenhang der geistigen Verrichtungen mit der Tätigkeit unseres Gehirns zugibt. Indes haben die neueren Forschungen auf dem Gebiete der Gehirnanatomie und Gehirnphysiologie noch keine völlige Klarheit darüber gebracht, von welchen Besonderheiten der Gehirnbeschaffenheit die Dummheit abhängt. Es lag wohl am nächsten, den quantitativen Faktor, i. e. die Masse des Gehirns verantwortlich zu machen, indem man von der Annahme ausging, daß ein kleineres Gehirn zu geringeren Leistungen befähigt sei als ein größeres. Zahlreiche Beobachtungen schienen zugunsten dieser Annahme zu sprechen. Das Gehirn der höchststehenden Affen bleibt an Umfang weit hinter dem des Menschen zurück; das Durchschnittsgewicht der Gehirne der niederstehenden Menschenrassen ist geringer als das der höherstehenden, das des Mannes größer als das des Weibes. Man hat auch bei Idioten und Imbezillen häufig auffallend niedrige, bei intellektuell hervorragenden Menschen erheblich über den Durchschnitt hinausgehende Gehirngewichte angetroffen. Diesen Beobachtungen stehen jedoch andere gegenüber, welche darauf hinweisen, daß die Masse des Gehirns allein für die geistige Begabung und damit auch für die Beschränktheit keine ausschlaggebende Bedeutung besitzt. Dies erhellt schon in recht deutlicher Weise aus manchen bei Tieren zu beobachtenden Tatsachen. So übertrifft die Gehirnmasse des Rindes um ein Vielfaches die des Pudels und des Jagdhundes, während die intellektuellen Leistungen letzterer weit über denen des Rinds stehen. Damit stimmen manche Erfahrungen beim Menschen überein. So hat man verschiedenfach sehr große Gehirne bei Individuen gefunden, welche sich während ihres Lebens keineswegs durch ihre geistigen Fähigkeiten auszeichneten, während manche berühmte Männer nur ein Gehirn von durchschnittlichem oder selbst unter dem Durchschnitt stehendem Gewicht besaßen1).

Da die vorliegenden Tatsachen die Annahme einer konstanten Beziehung zwischen Gehirnmasse und geistiger Entwicklung nicht gestatteten und der Ablauf der psychischen Prozesse an die Tätigkeit der Großhirnrinde gebunden ist, lag der Gedanke nahe, daß der Windungsreichtum der Großhirnhemisphären, i. e. die Flächenausdehnung der Großhirnrinde von Bedeutung für die intellektuelle Begabung sein müsse. auch für diese Annahme ließ sich eine Reihe von Erfahrungen geltend machen. Man fand bei geistig hervorragenden Personen häufig Gehirne mit auffallendem Windungsreichtum und bei wenig begabten Individuen solche mit sehr einfachen Windungsverhältnissen. Ähnliche Unterschiede ergaben sich bei einem Vergleich der Gehirne von Angehörigen der höher- und der niederstehenden Rassen. Indes handelt es sich hier, wie bei dem Volumen des Gehirns, um keine konstanten Vorkommnisse. Gehirne mit reicher Windungsentwicklung finden sich auch bei Personen, die sich nicht durch ihre geistigen Qualitäten auszeichneten, und einfache Windungsverhältnisse bei solchen von durchaus normaler Intelligenz. Die größte bisher beobachtete Flächenausdehnung der Großhirnrinde wies das Gehirn eines 36jährigen Ziseleurs von geringer Intelligenz auf, der ein schlechter Arbeiter und dem Trunke ergeben war2).

Auch bei Tieren ließ sich keine konstante Beziehung zwischen Windungsentwicklung und Intelligenz nachweisen. Zwar lehrt die vergleichende Anatomie, daß die Großhirnoberfläche bei allen Tierklassen bis zu den Säugern und auch bei diesen bei den geistig niederstehenden Ordnungen glatt ist. Allein andererseits ergibt sich bei den höherstehenden, mit Großhirnwindungen ausgestatteten Säugern, daß der Entwicklung der Windungen die der Intelligenz keineswegs stetig parallel geht. In ein und derselben Ordnung zeigen die kleineren Tiere meist nur glatte oder nur wenig mit Windungen versehene Großhirnhemisphären, die größeren Tiere dagegen zahlreiche Windungen, während die Intelligenz bei den großen und bei den kleineren Tieren durchaus keine entsprechenden Unterschiede darbietet. Für die Windungsentwicklung erweisen sich eben auch rein mechanische Faktoren höchst einflußreich, wie durch Untersuchungen unwiderleglich dargetan ist.

Die Tatsache, daß erhebliche, nicht auf pathologischen Prozessen beruhende Schwankungen in der Dicke der Großhirnrinde vorkommen, führte weiterhin zu der Vermutung, daß auf diesem Wege mangelhafte Flächenausdehnung der Rinde ausgeglichen werden könnte, und einzelne Beobachtungen schienen diese Ansicht zu stützen. Jensen3), welcher an 6 Gehirnen genaue Untersuchungen über die Rindendicke anstellte, fand bei einer Frau, welche bis in die 20er Jahre den Anforderungen einer niederen Lebenssphäre zu genügen imstande und, wenn auch nicht intelligent, jedenfalls auch nicht idiotisch war, ein Gehirngewicht von nur 1065 g, dabei waren die Großhirnhemisphären mäßig windungsreich, die Furchentiefe und Furchenlänge, also die Gesamtoberfläche gering und zwar unter dem Normalen. Die Untersuchung ergab in diesem Falle eine sehr beträchtliche Dicke der Rinde (2,6 mm, die dickste Rinde von sämtlichen 6 untersuchten Fällen), und Jensen glaubte in diesem Umstände eine Erklärung dafür zu finden, daß die betreffende Person trotz der kümmerlichen Entwicklung ihres Gehirns den erwähnten Geisteszustand bis in die 20 er Jahre zeigte. Als Gegenstück führte Jensen den Fall einer Idiotin mit Sprachmangel an. Hier besaß das Gehirn das respektable Gewicht von 1416 g, einen über dem Durchschnitte stehenden Windungsreichtum und sehr bedeutende Furchenentwicklung, dagegen waren die Furchen sehr flach und die Rindenschicht sehr dünn (atrophisch, die dünnste unter den 6 Fällen Jensens).

Ich habe indessen schon vor mehreren Dezennien darauf hingewiesen, daß man den Befunden Jensens keine zu große Tragweite zuschreiben dürfe. "Es ist," bemerkte ich betreffenden Orts4), "hierdurch noch keineswegs dargetan, daß in allen den Beobachtungen von großem Windungsreichtum bei unbekannten Individuen und umgekehrt mittlerer Windungsentwicklung bei geistig hochstehenden Personen die Rindendicke den ausgleichenden Faktor zugunsten eines Parallelismus von Rindenentwicklung und Intelligenz spielte. Wir wissen auch noch nicht, ob mit den tatsächlich vorkommenden Variationen der Rindendicke auch stetig eine entsprechende Vermehrung (bezw. Verminderung) der Ganglienzellen einhergeht, ob die Zunahme der Rindendicke nicht zum Teil oder hauptsächlich auf einer Vermehrung des Gliagewebes beruht. Beobachtungen an Tieren legen diese Möglichkeit wenigstens nahe. Nach Meynert5) besitzt beim Reh die leere Neurogliaschicht der Rinde auf dem Durchschnitt eine größere Breite als beim Affen und Hunde".

Meine Vermutung, daß die größere Dicke nicht eine höhere Entwicklung der Rinde bedeuten muß, hat durch die Untersuchungen von Kaes6)eine Bestätigung gefunden; dieser Autor fand, ganz im Gegensatz zu dem, was von Jensen angenommen wurde, daß die "entwickeltere und faserreichere Rinde auch die schmälere ist". Die bei funktionell minderwertigen Gehirnrinden vorkommende größere Breite ist nach dem Autor darauf zurückzuführen, daß die mit dem Wachstum einhergehende Verschmälerung der äußeren Hauptschicht der Rinde bei Entwicklungsstörungen zum Stillstand gelangt oder sogar in Verbreiterung übergeht.

 

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1) Am auffallendsten in dieser Beziehung war der Befund bei dem berühmten französischen Parlamentarier und Staatsmann Gambetta, dessen Gehirn nur 1241 g wog, also 150 g unter dem Durchschnitt aufwies. Ein Gegenstück zu Gambetta bildet der von Obersteiner mitgeteilte Fall eines im Wiener Versorgungshause verstorbenen Mannes von 58 Jahren von mittlerer Statur. Derselbe, ein Millionärssohn von mittlerer Begabung, dem die reichlichste Gelegenheit zur Entfaltung seiner Anlagen geboten war, leistete, abgesehen von der Vergeudung seines Vermögens, nichts Bemerkenswertes, obwohl er Besitzer eines ganz ungewöhnlich großen Gehirns war. Sein Gehirn wog nach Obersteiners Berechnung im frischen Zustand 2028 g, also etwas mehr als das Turgenjeffs, und zeigte mikroskopisch keine pathologischen Veränderungen.

2) Siehe: "Die Umschau" Nr. 27, 4. Juli 1908, S. 533.

3) Jensen: Archiv für Psychiatrie, V. Bd., S. 587, 1875.

4) Loewenfelö: "Über die Schwankungen in der Entwicklung der Hirngefäße und deren Bedeutung in physiologischer und pathogenetischer Hinsicht". Archiv f. Psych., Bd. XVIII, Heft 3.

5) Meynert, "Psychiatrie, Klinik der Krankheiten des Vorderhirns", I. Hälfte, 1884, S. 242.

6) Theodor Kaes: "Die Rindenbreite als wesentlicher Faktor zur Beurteilung der Entwicklung des Gehirns und namentlich der Intelligenz". Neurol. Zentralbl. 1905, Nr. 22 und "Die Großhirnrinde des Menschen", Jena 1907.


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