[Die Fortbildungskurse für Arbeiter.
Die Bedeutung der Volksbibliotheken und Lesehallen.]


Neben den Volkshochschulen und unabhängig von diesen wurden in einer größeren Anzahl deutscher Städte (fast ausschließlich Universitätsstädte) von Studierenden und anderen Persönlichkeiten, welche an der Hebung der Volksbildung mitzuarbeiten für ihre Pflicht hielten, Fortbildungskurse für Arbeiter eingerichtet, in welchen neben der Auffrischung und Ergänzung der in der Volksschule erworbenen Kenntnisse den Schülern auch Unterricht in für ihr praktisches Leben nützlichen oder ihrer Allgemeinbildung dienenden Fächern erteilt wird. Von den Leitern dieser Kurse wurden auch Einzelvorträge über gewisse Gegenstände, Kunstabende und Führungen durch Museen veranstaltet. Die in München abgehaltenen akademischen Arbeiterkurse, um ein Beispiel anzuführen, fanden solchen Zulauf, daß alsbald eine Schule zur Unterbringung der Hörer nicht mehr ausreichte. Die Unterrichtsgegenstände bildeten anfänglich nur Rechnen, Rechtschreiben, Sprachlehre, Aufsatz und Schönschreiben. Aber alsbald erstreckten sich die Kurse auch auf eine große Anzahl anderer Fächer, so insbesondere technisches und Freihand-Zeichnen, Stenographie, Geographie, Staatsbürgerkunde, Gesundheitslehre, Literatur, fremde Sprachen etc. Das Interesse für die Hebung der Volksbildung hat außerdem in Berlin und einzelnen anderen Städten verschiedene Organisationen bestimmt, eine Reihe von Unterrichtskursen mit sehr geringem Honorar für die Bildungsbedürftigen der großen Masse einzurichten, so in Berlin die mit der Freien Hochschule vereinigte Humboldt-Hochschule, die Lessing-Hochschule und die Urania, welche ihre Tätigkeit auf naturwissenschaftliche Belehrung beschränkt, auf diesem Gebiet aber Hervorragendes leistet.

In München werden von Lehrern der Technischen und der Handels-Hochschule "praktische Arbeiterkurse" abgehalten, deren Ziel es ist, "den Arbeitern Gelegenheit zur Erfassung der technischen Grundlagen ihres Berufs und der Nachbargebiete zu geben, das Verständnis der inneren Zusammenhänge zu wecken und dadurch die Freude am eigenen Schaffen zu mehren".

Daß es eine der wichtigsten Aufgaben aller auf Hebung der Volksbildung gerichteten Bestrebungen ist, durch Gründung von Bibliotheken und Lesehallen die breiten Massen mit den Schätzen unserer Literatur bekannt zu machen und ihnen auch sonst kostenlos geeigneten Lesestoff zur Verfügung zu stellen, wurde schon lange erkannt. Erst in den letzten Dezennien hat jedoch die Mehrung der dem Volk gewidmeten Bibliotheken erhebliche Fortschritte gemacht und deren Organisation eine Gestaltung angenommen, die dem speziell in der Arbeiterklasse mehr und mehr sich ausbreitenden Bildungsbedürfnis Rechnung trägt. Man war auch bemüht, die Bevölkerung kleinerer Städte und der Landbezirke mit Büchereien zu versehen, was z. T. in der Form von Wanderbibliotheken geschah. Die Zahl der Dorfbibliotheken, die vor 1895 nur 1000 betrug, war 1908 bereits auf 5 — 6000 gestiegen (nach Dr. Ernst Schultze). In Preußen hat man auch durch staatliche Zuschüsse die Errichtung von Dorfbibliotheken, insbesondere in den östlichen Provinzen, zu fördern gesucht. Unter den Vereinen, welche sich die Förderung des Volksbüchereiwesens angelegen sein lassen, steht in erster Linie die "Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung in Berlin", die sich besonders durch Errichtung und Unterstützung ländlicher Bibliotheken große Verdienste erwarb, aber auch sonst eine für die Volksbibliotheken fruchtbare Tätigkeit entfaltete (so z. B. durch Herausgabe eines Verzeichnisses von für diese Anstalten geeigneten Schriften). Von anderen Vereinen verdienen Erwähnung: der Zentralverband zur Begründung von Volksbibliotheken, der Verein zur Verbreitung guter volkstümlicher Schriften, ferner die "deutsche Dichter-Gedächtnisstiftung in Hamburg", die hervorragenden Dichtern durch Verbreitung ihrer Werke ein Denkmal im Herzen des deutschen Volkes setzen will. Von politischen und beruflichen Vereinen haben insbesondere die sozialdemokratischen durch die Gründung von Bibliotheken an zahlreichen Orten den Bildungsbedürfnissen ihrer Mitglieder Rechnung getragen1).

Mit der Errichtung von Lesehallen ging es anfänglich sehr langsam. Auf die erste 1874 in Friedberg i. H. gegründete folgte erst 1893 eine zweite in Pforzheim, die aus kommunalen Mitteln errichtet wurde. Erst nachdem die Gesellschaft für ethische Kultur in Frankfurt und Berlin Lesehallen gegründet hatte, ging man auch in einer größeren Zahl anderer Städte an die Schaffung derartiger Einrichtungen. Ältere Volksbibliotheken wurden auch vielfach durch Lesehallen erweitert. In Berlin war man besonders eifrig in der in Frage stehenden Richtung, so daß 1919 neben 28 Volksbibliotheken 13 Lesehallen der Bevölkerung zur Verfügung standen.

Trotz vielseitiger Bemühungen und der von den erwähnten und anderen Vereinen geleisteten Unterstützung des Volksbildungswesens machte die Gründung von Volksbibliotheken und zwar nicht nur auf dem Lande und in kleinen Städten in diesem Jahrhundert nicht jene Fortschritte, die man erwarten konnte. Besonders ungünstig für die Mehrung der Volksbibliotheken erwies sich der Einfluß des Krieges und zwar schon durch den Umstand, daß die Versorgung der Armee und Marine und ihrer Anstalten (Lazarette etc.) mit Lesestoff eine ungeheure Zahl von Büchern und Schriften erheischte. Es ist zu hoffen, daß die Förderung des Volksbüchereiwesens nunmehr wieder von gemeinnützigen Vereinen und Privaten mit voller Kraft fortgesetzt wird, und auch von kommunaler und staatlicher Seite die gebührende Berücksichtigung findet. auch einzelne Verleger und Vereine haben sich bemüht, durch Herstellung und Verbreitung sehr billiger Ausgaben von zur Volkslektüre geeigneten Werken unserer und der ausländischen Literatur der Volksbildung zu dienen. Vor allem ist hier die Reclam'sche Universalbibliothek zu nennen, deren überaus reiche Zahl von Publikationen dem Lesebedürfnisse aller Bevölkerungsschichten Rechnung trägt. Ähnliche Anerkennung und Verbreitung, wie die Reclam'schen Bände, haben sich die Wiesbadener Volksbücher und die Rheinische Hausbücherei erworben. Die Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung in Hamburg hat sich darauf verlegt, eine beschränkte Anzahl aber vorzüglich ausgewählter Werke in riesiger Auflage herzustellen und zu sehr billigen Preisen durch den Buchhandel zu verbreiten. Es wäre sehr zu wünschen, daß der Absatz dieser billigen Schriften auch unter der ländlichen Bevölkerung dadurch erleichtert würde, daß in jedem Dorfe irgend ein Geschäft ebenso wie Ansichtspostkarten und Schreibutensilien eine Anzahl speziell als Volkslektüre geeigneter Werke feilhält. Bezüglich der Auswahl den betreffenden Geschäftsleuten an die Hand zu gehen, dürfte eine Aufgabe sein, der sich die Volksbildungsvereine kaum entziehen werden.

 

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1) 1916 waren von 656 Gewerkschaftskartellen bereits 496 Büchereien eingerichtet, daneben 71 Lesezimmer.


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