[Folgen einseitiger intellektueller Beschäftigung. Kompetenzüberschreitungen. Der Fall des klugen Hans.]


Jede einseitige, intensive und anhaltende Beschäftigung mit einem Gegenstand, einer Wissenschaft, einer Kunst, technischen Problemen usw. bedingt auch, wenn dieselbe bedeutende Verstandesleistungen erheischt, eine Einschränkung des geistigen Horizonts und damit der Urteilsfähigkeit für andere Gebiete. Hieraus erklären sich zum Teil, wie wir schon an früherer Stelle andeuteten, die Unbeholfenheit und Unsicherheit in Angelegenheiten des täglichen Lebens, die man so häufig bei Gelehrten und Künstlern trifft. Die meisten dieser Weltunerfahrenen haben jedoch die Einsicht, ihre schwache Seite zu erkennen und sich in praktischen Angelegenheiten von anderen leiten oder versorgen zu lassen. Es gibt jedoch gelehrte Herren, welche dieser Einsicht ermangeln und sich daher in Unternehmungen einlassen, bei denen sie durch ihre Unzulänglichkeit zu Schaden kommen. Manche gehen in der Überschätzung ihrer Begabung und ihres Wissens so weit, daß sie auch außerhalb ihrer Fachwissenschaft auf verschiedenen Gebieten eine Autorität beanspruchen, auf welche sie keinerlei Anrecht haben. Diese Urteilsschwäche hat schon für manchen hervorragenden Vertreter der Wissenschaft recht unangenehme Früchte gezeitigt, indem sie ihn verleitete, sich als kompetent in Angelegenheiten zu erachten, für welche er nicht die erforderliche Sachkenntnis besaß. Ein recht treffendes Beispiel ist der Fall des "klugen Hans" in Berlin, jenes berühmten Pferdes, das nach dem Gutachten einer Kommission, an deren Spitze sich der Psychologe Geheimrat Professor Stumpf befand, die Fähigkeit besitzen sollte, komplizierte Rechenaufgaben zu lösen, Quadratwurzeln auszuziehen, Personen nach Photographien wiederzuerkennen, konsonierende und dissonierende Akkorde zu unterscheiden usw., i. e. in bezug auf seine intellektuellen Leistungen als auf der Stufe eines Quintaners stehend betrachtet wurde. Dabei wurde übersehen, wie Moll nachgewiesen hat, daß die scheinbar so merkwürdigen Leistungen des klugen Hans auch durch Zeichen veranlaßt werden konnten, die von dem Besitzer des Pferdes oder anderen Personen ausgingen, was in der Tat auch der Fall war. Stumpf ist, was wir nicht verschweigen dürfen, zu dieser Ansicht auch später gekommen.


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