§ 57. Entwicklung des Cartesianischen Satzes:
Cogito ergo sum

 

3. Ganz verkehrt, dem Gedanken zuwider, nur aus dem Standpunkt der gemeinsten Sinnlichkeit geschöpft ist der Einwurf Gassendis, daß Descartes, um zu beweisen, daß er sei, keinen solchen Spektakel und Aufwand zu machen gebraucht habe, er hätte dies aus jeder andern Handlung ebensogut beweisen können, da alles, was handelt, notwendig auch sei. Wenn Descartes freilich, wie sich Gassendi vorstellt, weiter nichts zu beweisen gehaßt hätte als seine Existenz, die Existenz dieses einzelnen, empirischen Subjektes, nicht aber die Existenz des Geistes, keine andere Existenz als eine sinnliche, empirische, die Existenz der Erscheinung, aber nicht eine reelle, unbezweifelbar gewisse, die nur eine solche sein kann, welche mit dem selbst unbezweifelbar Gewissen, dem vom Geiste Unabsonderlichen, den ihm Eigensten, dem Denken, eins ist, so hätte Gassendi recht. Gassendi und alle, welche denselben oder ähnliche Einwürfe Descartes machten oder noch machen, hätten jedoch bedenken sollen, daß schon innerhalb des Standpunkts der Sinnlichkeit ein großer Unterschied zwischen Sein und Sein ist, daß man nicht gleichgültig und beliebig aus jeder Handlung, aus der einen ebensogut als aus der andern, das Sein beweisen kann; daß ein Sein mit wohlbehaglich angefülltem Magen ein viel reelleres Sein ist als ein Sein mit leerem Magen, daß in dem Genuß der Speisen der Mensch wohl mehr sich fühlt, ein reelleres Dasein hat als in der Exkretion derselben und daß, wenn ein Unterschied ist zwischen dem Schluß aus der Handlung des Hungerns, des Erbrechens und dergleichen und dem Schlusse des Genusses der Speisen, des Wohlbehagens etc. auf das Sein, wohl auch ein Unterschied sein müsse zwischen dem Schluß aus dem Denken und dem Schluß aus der Handlung der Exkretion oder sonst einer andern Handlung auf das Sein und daß also noch weiter hinauf von dem Standpunkt des Geistes überhaupt aus, namentlich aber des Geistes, wie ihn Descartes bestimmt, alles Sinnliche, alle sinnlichen Handlungen als ungewiß, unreell erscheinen. Descartes antwortet Gassendi auf seinen Einwurf also: »Wenn du behauptest, daß ich mein Sein aus jeder andern Handlung hätte beweisen können, so irrst du dich gewaltig, denn keiner Handlung von mir, das Denken allein ausgenommen, bin ich vollkommen gewiß, nämlich mit jener metaphysischen Gewißheit, von der hier allein die Rede ist. Und ich kann nicht schließen z.B.: Ich gehe, also bin ich, außer insofern, als das Bewußtsein des Gehens Denken ist, von welchem allein dieser Schluß gültig gewiß ist, aber nicht von der körperlichen Bewegung, welche bisweilen im Schlaf nicht stattfindet, während ich mir doch einbilde zu gehen, so daß ich wohl daraus, daß ich zu gehen Glaube, auf die Existenz des Geistes, der dieses Glaubt, aßet nicht auf die des Körpers, der geht, schließen kann.« (Resp. V, 1, § 1, u. Medit. II) Für den vom Sinnlichen abstrahierenden und sich von ihm unterscheidenden, nur in diesem Unterschiede sich erkennenden und bejahenden, diesen Unterschied als seine positive Bestimmung erfassenden Geist, für den Geist, wie Descartes ihn bestimmt, ist nur das gewiß, was eins ist mit dem Bewußtsein des Geistes selbst, mit der Gewißheit, die er von sich selbst hat, oder was er ohne Vermittelung in der Einheit mit sich selbst schaut und erkennt, was ihm das Nächste ist, in dem er nicht die Vorstellung eines andern hat, in dem er sich nicht entäußern und von sich entfernen muß; alles ihm Entfernte, von ihm Unterschiedene, vor allem also das Sinnliche, sinnliche Handlung, sinnliche Existenz, ist für ihn ein Ungewisses und Unreelles. Denn das Sein des Geistes, seine Bejahung, seine positive Bestimmung, seine Selbstgewißheit ist eben dieser Unterschied vom Sinnlichen und eben deshalb das Sinnliche und alle sinnliche Existenz als unterschieden von dem Selbstgewissen, von dem unmittelbar und absolut Unbezweifelbaren, d. i. dem schlechthin Affirmativen, dem Geiste, ein Bezweifelbares, Ungewisses, Unreelles. Die Nichtigkeit des Einwurfs Gassendis zeigt sich auch darin, daß das Denken nach Descartes nicht irgendeine besondere Handlung unter und neben andern Handlungen ist, daß es nach ihm nicht die Bedeutung einer partikulären Kraft hat, nicht etwas vom Geiste ist, sondern der ganze Geist selbst, das Wesen des Geistes, und daß man nur, wie Descartes ganz richtig tut, mit einer Handlung, die das schlechthin Positive, das Wesen ist, das Sein identisch erkennen kann, aber nicht gleichgültig und beliebig mit irgendeiner partikulären Handlung. Wenn es anders noch eines Beweises bedürfte, so würde auch hieraus sich beweisen lassen, daß das »Cogito ergo sum« kein Schluß ist; denn zu einem Schluß gehört ein terminus medius, ein Drittes, Mittleres, in dem die zu Verknüpfenden verbunden sind — so zu dem Schluß von einer besondern Handlung auf das Sein das Wesen; es muß erst erwiesen sein, ob diese Handlung eine nur spezielle oder eine allgemeine, wesentliche ist; zwischen dem Wesen aber und dem Sein liegt kein Drittes, sie sind durch sich selbst, d. i. unmittelbar eins.

 

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101) Die Form des Monologs, in der Descartes seine »Meditationen« gibt, ist hier beibehalten, um desto besser im Gange derselben zu bleiben.

102) Es möge hier auch noch die Stelle aus seiner »Dissertatio de Methodos«, p. 28-29, Platz finden, in der er das Prinzip seiner Philosophie, obgleich auf keine von den übrigen Stellen wesentlich verschiedene Art, also ausspricht: »Animadverti, me, quia caetera omnia ut falsa sic rejiciebam, dubitare plane non posse, quin ego ipse interium essem. Attente examinans, quis essem, et videns, fingere quidem me posse corpus meum nihil esse, itemque plane nullum esse mundum, nec etiam locum, in quo essem, sed non ideo ulla ratione fingere posse, me non esse, quinimo ex hoc ipso, quod reliqua falsa esse fingerem, sive quidlibet alind cogitarem, manifeste sequi me esse.«

103) »Cogitatio est, haec sola a me divelli nequit, ego existo certum est. Quamdiu autem? nempe quamdiu cogito, nam forte etiam fieri posset, si cessarem ab omni cogitatione, ut illico totus esse desinerem.« (Medit. II)

104) »Animas absque corpore spectatas res revera existentes.« (»Diss. de Meth.« 33) Verbinde mit dieser Stelle auch die im vorhergehenden Paragraph aus den Episteln zitierte.

105) Daß übrigens diesem Sein, das hier vom sinnlichen Sein unterschieden und mit dem Denken identifiziert wird, kein andres Sein zugrunde liegt als das sinnliche, daß der Mensch, wie ich später gezeigt, unbewußt die Wahrheit des sinnlichen Seins eingesteht, indem er sie bewußt verneint, daß alles sogenannte »geistige« oder »unsinnliche« Sein nur das mystifizierte, versteckte sinnliche Sein ist, das gesteht auch indirekt Descartes in der Medit. III ein, wenn er sagt, daß er, obwohl er sich nur als denkendes Wesen betrachte, doch keiner Kraft sich bewußt sei, durch die er bewirken könne, daß er im nächsten Augenblicke sei, »ut ego ille qui jam sum, paulo post etiam sim futurus«. Denn was ist dieses Sein, welches dem denkenden Wesen hier auf dem Standpunkt der Abstraktion von der Sinnlichkeit zugeschrieben wird, anders als sinnliches, zeitliches Sein?

 


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