§ 12. Das bisherige Elend der Wissenschaften


Die Wissenschaften befanden sich bisher in einem höchst traurigen, kläglichen Zustande. Kein Wunder; unsere Wissenschaften sind griechischen Ursprungs; denn die Zusätze der römischen oder arabischen oder neuern Schriftsteller sind von geringer Anzahl und Bedeutung und haben wenigstens, es mag auch ihre Beschaffenheit sein, welche sie wolle, zu ihrer Basis die Erfindungen der Griechen. Der griechischen Weisheit fehlt es nun zwar nicht an Worten, aber an Werken.34) (»N. O.«, I, A. 71) Die Wissenschaft befand sich bei ihnen noch in der Kindheit; daher die Griechen so plauderhaft sind wie die Kinder, aber auch ebenso unreif und unfähig zur Erzeugung. Ein Beweis hiervon ist, daß die Philosophie der Griechen und die aus ihr abgeleiteten Wissenschaften durch den Zeitraum so vieler Jahrhunderte hindurch kaum ein einziges Werk oder Experiment hervorbrachten, welches dem menschlichen Leben einen reellen Nutzen brachte und aus ihren Dogmen und Spekulationen abgeleitet werden könnte.35) Nichtig ist aber eine Philosophie, die keine Werke hervorbringt. Denn wie der Glaube muß auch die Philosophie nur nach ihren Werken beurteilt und geschätzt werden. (l. c., A. 71, 73 und Praefatio)

Die Wissenschaften in ihrem bisherigen Zustande haben daher eine wahrhaft sprechende Ähnlichkeit mit jener fabelhaften Scylla, die von Gesicht eine Jungfrau war, am Leibe aber in bellende Untiere überging. Oben nämlich im Gesichte, d.h. in ihren allgemeinen Sätzen betrachtet, haben sie wohl ein schönes, verführerisches Aussehen, aber wenn man auf die besonderen, speziellen Sätze kommt, die gewissermaßen die Zeugungsorgane der Wissenschaft bilden, so findet man, daß sie zuletzt in bloßen Wortstreitigkeiten endigen wie der Leib der Scylla in bellenden Hunden. (l. c., Praef.)

Die Wissenschaften waren daher zeither eine tote Sache, sie blieben unbeweglich wie Statuen immer auf derselben Stelle stehen, sie machten keine erheblichen, bedeutenden Fortschritte. (l. c.)

Wie unsere Wissenschaften überhaupt nur Zusammenstellungen sind von bereits längst erfundenen Dingen, keine Anweisungen zu neuen Erfindungen, daher zur Erfindung neuer Werke oder Künste völlig unbrauchbar, so hilft uns auch unsere bisherige Logik gar nichts zur Erfindung neuer Kenntnisse und Wissenschaften, ja, sie dient mehr zur Befestigung des Irrtums als zur Erforschung der Wahrheit, sie ist daher mehr schädlich als nützlich. (l. c., I, A. 11, 8, 12)

Der Syllogismus nämlich besteht aus Sätzen, der Satz aus Worten, die Worte aber sind Zeichen der Begriffe. Wenn nun die Begriffe verworrene und übereilte Abstraktionen von den Dingen sind, so taugen auch die darauf gebauten Schlüsse und Folgerungen nichts. In unsern logischen und physikalischen Begriffen ist aber gar keine gesunde Vernunft, sie sind alle imaginär und schlecht bestimmt. (l. c., A. 14, 15)

Bisher hatten wir noch keine echte, reine Naturphilosophie, die doch die Mutter aller Wissenschaften ist. Sie war vielmehr bisher immer verfälscht und verdorben, und zwar durch die Logik in der Schule des Aristoteles, durch die natürliche Theologie in der Schule des Plato, in der zweiten Schule des Plato, der des Proklus und anderer, durch die Mathematik, die die Naturphilosophie nur beschließen oder begrenzen, aber nicht anfangen und erzeugen soll.36) (l. c., A. 96, u. II, A. 8)

 

___________________

34) Ein für allemal muß ich hier bemerken, daß ich bei der Übersetzung jeder Stelle mich nicht bloß nach dieser, sondern nach andern ähnlichen Stellen, die sich in Bacon finden, richte, daß ich überhaupt bei jeder Stelle eines Schriftstellers den Schriftsteller in seiner Totalität in mir gegenwärtig habe. Bacon hat so viele sonderbare, wunderliche Ausdrücke, gebraucht viele Worte in einem so ganz eigentümlichen Sinne, daß man ihn nur aus sich selbst verstehen und übersetzen kann. Bemerken muß ich ferner, daß meine Übersetzung, je nachdem es mir notwendig schien, bald eine Paraphrase und Erläuterung zugleich ist, bald nur ein kurzer Extrakt der Essenz des Textes.

35) Das französische Sprüchwort: »Il veut apprendre à sa mère à faire des enfants«, paßt ganz auf Bacon, wie er hier und anderwärts über die griechische Wissenschaft räsoniert. Denn selbst, daß er wider sie ist und spricht, verdankt er nur ihr, verdankt er nur dem Geiste, aus dem die griechische Philosophie entsprang.

36) ... Per Mathematicam, heißt es im Text, quae Philosophiam naturalem terminare, non generare aut proereare debet. Brück in seiner Übersetzung des »Nov. Org.«, Leipzig 1830, übersetzt es also: »durch die Mathematik, welche zwar feststellen, aber nichts Neues aufstellen kann«.


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 16:17:10 •
Seite zuletzt aktualisiert: 07.09.2005 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright