[Das organische Substrat der Psychoneurosen]

Zusammenfassung


I. In der Kindheitsgeschichte jedes Nervösen finden sich Erinnerungs- oder Gefühlsspuren einer geringen Selbsteinschätzung, verbunden mit Hinweisen auf ein überaus hoch angesetztes Ziel; letzteres bleibt richtungsgebend für alle körperlichen und geistigen Anstrengungen des Patienten, es speist seine Phantasie und wirkt wie ein Zwang auf die Richtung seines Lebens.

II. Die ursprünglich geringe Selbsteinschätzung des Nervösen baut sich oft auf körperlich vermittelten Empfindungen der Schwäche, des Leidens, der körperlichen und geistigen Unsicherheit auf und bildet einen wichtigen psychischen Durchgangspunkt für die seelische Entwicklung des Kindes, in dem deutlich zum Ausdruck kommt: die Relation, in die sich das Kind zu seiner Umgebung, zur Außenwelt gesetzt hat. Die Selbsteinschätzung ist demnach schon eine Antwort, die das Kind auf das Problem des Lebens gegeben hat. In dieser Selbsteinschätzung als einer Relation liegen alle Empfindungen der kindlichen Dürftigkeit und Unsicherheit, alle erfaßbaren und erfaßten Vergleichsresultate und die Richtungslinien für die Zukunft.

III. Die kindliche Unsicherheit ist das Resultat von objektiven und subjektiven Vorgängen, die sich natürlich niemals rein und ungemischt darstellen. Die Notwendigkeit subjektiver Fehlerquellen leuchtet ein; die Unfähigkeit des Kindes, ein reales Weltbild zu erfassen, muß stets im Auge behalten werden.

IV. Die objektiven Tatsachen, die in Betracht kommen, beziehen sich:

a) auf die normale kindliche Schwäche und Unsicherheit,

b) insbesondere auf deren pathologische Steigerungen, wie sie durch angeborene Minderwertigkeit der Organe zustande kommen.

V. Die subjektive Seite betrifft die Position des Kindes im Rahmen der Familie, gegenüber Vater, Mutter und Geschwistern, seine Eindrücke und Wertungen von den Schwierigkeiten der Welt, der Zukunft, die in gleicher Weise unreif ausfallen wie die des Wilden und deshalb ähnliche Sicherungstendenzen zu wiederholen scheinen. In diesem Messen und Vorbauen für die Zukunft, in der vorbereitenden Attitüde des Kindes für sein künftiges Leben, zur Bewältigung der Außenwelt liegen immer auch die Erfahrungsspuren seiner objektiven Unsicherheit und seines Schicksals.

VI. Die Unsicherheit des Kindes, die größere der konstitutionell Minderwertigen, erfordern ein Ziel und Richtungslinien, um der Sehnsucht nach Sicherheit und nach vollkommenen Leistungen zu genügen. Je geringer die Selbsteinschätzung des Kindes, um so höher stellt es sein Ziel, um so prinzipieller hält es daran fest, um so kategorischer baut es seine Richtungslinien aus und um so deutlicher treten einseitige Charaktere und ebensolche psychische Bereitschaften zutage. Um so ungewöhnlicher auch und sonderbarer, sei es in unmittelbarster Nachahmung oder im Gegensatz zu seiner Umgebung, sei es durch allmähliches Hineinwachsen in eine brauchbare Attitüde unter dem wirklichen oder vermeintlichen Druck der Umstände, sei es infolge körperlicher Symptome als Zeichen seelischer Spannung vor einem Problem, wird dann seine Haltung, bis diese dem neurotischen System genügt, mittels dessen sich das Kind als den Herrn der Verhältnisse fühlt, ohne seine Kooperationsfähigkeit bewähren zu müssen.

VII. So kommt es, daß in diesem entwickelten unbewußten Lebensplan die Distanz zur Umgebung, die Familientradition und bewußte sowie unbewußte Erziehungsmaximen ihre Eintragung finden. Insbesondere sind aus letzteren der Druck einer strengen Erziehung, aber auch Verzärtelung als Ursachen hervorzuheben, die das Unsicherheitsgefühl des Kindes, zumal des disponierten, namhaft erhöhen. Seine Anstrengungen ferner, ein Ziel zu erreichen, das einer vollendeten Männlichkeit entspringt, drängt es gleichnisweise auf sexuelle Leitlinien und läßt seine innere psychische Bewegung oft so erscheinen, als ob sich das Kind aus der Weiblichkeit zur männlichen Vollendung erheben wollte.

VIII. Von den starren Systemen des neurotisch disponierten Kindes sind insbesondere jene von Unfällen bedroht, deren Endziel, sozusagen ihr fünfter Akt, in abstrakter Weise, aber im unerschütterlichen Zwang des Unbewußten das Ideal einer Gottähnlichkeit festhält. Ihre Träger sind ganz besonders auf den Schein und auf ein Alibi angewiesen, und die sonder­barsten Attitüden, Finten und Umwege sowie die stärksten Sicherungen (Sonderbarkeiten, Krankheitsbeweise, neurotische und psychotische Erscheinungen) und Ausschaltungen normaler Beziehungen sind nötig, um im Drange der Welt das bedrohte Persönlichkeitsideal zu schützen. Ein weit­verzweigtes Sicherungsnetz, planmäßig wirkende Aggressionshemmungen werden erforderlich, um gefährlichen Entscheidungen und vermuteten Niederlagen auszuweichen.

IX. Unter den Realien, die das Gefühl der Unsicherheit des Kindes am stärksten ausgestalten, stehen die konstitutionellen Erkrankungen des Kindesalters obenan. Sie wirken auf die Psyche durch ein Heer von Übeln, durch Schmerzen, Todesfurcht, Schwäche, Kleinheit, Plumpheit, verlangsamte körperliche und geistige Entwicklung, durch Häßlichkeit, Verunstaltungen, Mängel der Sinnesorgane und durch Kinderfehler. Von dieser Basis der Minderwertigkeitsgefühle strebt das disponierte Kind seinem überspannten Ziele zu, mit einem unaufhaltsamen Elan, der ihm zum dauernden Rhythmus seines Lebens wird. Innerhalb dieser aufgepeitschten, aber starren Rhythmen entspringen die seltenen großen Leistungen von Persönlichkeiten, deren Überkompensation gelungen ist, und die häufigeren armseligen Leistungen der Neurose und Psychose. Letztere beide dann, wenn Entmutigung eintritt und das Gemeinschaftsgefühl mangelhaft entwickelt ist.

X. Das häufige organische Substrat der Neurose 4) und Psychose ist in der Minderwertigkeit des Keimplasmas und der aus ihm entspringenden konstitutionell minderwertiger Organe zu suchen. Die spezifischen Angriffe von außen erfolgen durch Lues, Alkoholismus, durch den dauernden Zwang zur Domestikation, durch Überleistungen und Massenelend Das neurotische System wird gefördert durch die nervöse Familientradition mit ihren innerhalb der Familie waltenden nervösen Charakteren.

 

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4) Siehe auch die späteren Darstellungen Kretschmers und A. Holub: ›Aus der neuesten Literatur der Organminderwertigkeit‹. In: Internat. Zeitschr. f. Individualpsych., VII. Jahrg., S. 325.


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