1. Zorn.


Ein Affekt, der das Machtstreben, die Herrschsucht eines Menschen geradezu versinnbildlicht, ist der Zorn. Diese Ausdrucksform verrät deutlich den Zweck, jeden Widerstand, der dem Zornigen entgegentritt, rasch und mit Gewalt niederzuwerfen. Auf Grund unseres bisherigen Wissens erkennen wir in dem Zornigen einen Menschen, der mit erhöhter Kraftentfaltung nach der Überlegenheit strebt. Das Geltungsstreben artet zuweilen in einen derartigen Machtrausch aus, daß es leicht erklärlich ist, wenn Menschen dieser Art auf die kleinste Beeinträchtigung ihres Machtgefühls mit einem Zornausbruch antworten. Sie tragen die Empfindung in sich, daß sie auf diese, vielleicht schon oft erprobte Weise am leichtesten über einen anderen Herr werden und ihren Willen durchsetzen können. Das ist wohl keine Methode, die auf einer hohen Stufe steht, aber in den meisten Fällen wirkt sie, und mancher wird sich erinnern, wie er sich in einer erschwerten Situation durch einen Zornausbruch wieder zur Geltung bringen konnte.

Es gibt außerdem Möglichkeiten, wo ein Zornausbruch ein gut Teil Berechtigung in sich enthalten kann. Um solche Fälle handelt es sich hier nicht. Wir meinen eine deutlich und stark in den Vordergrund tretende Affektivität, Personen, bei denen der Zorn gewohnheitsmäßig auftritt. Es gibt Menschen, die daraus geradezu ein System machen und dadurch auffallen, daß sie überhaupt keinen anderen Weg haben. Es sind hochfahrende, höchst empfindliche Leute, die niemand neben oder über sich dulden, die immer das Gefühl brauchen, daß sie überlegen sind, die daher auch immer lauern, ob man ihnen nicht irgendwie zu nahe getreten ist und ob sie hoch genug eingeschätzt werden. Gewöhnlich ist damit auch ein Zug von äußerstem Mißtrauen verbunden, der bewirkt, daß sie sich auf niemand verlassen wollen. Wir werden bei ihnen meist auch andere Charakterzüge finden, die wir oben als angrenzende bezeichnet haben. In schwereren Fällen kommt es vor, daß solch ein überaus ehrgeiziger Mensch vor jeder ernsten Aufgabe zurückschreckt und sich schwer in die Gesellschaft einfügt. Wird ihm aber etwas versagt, so kennt er eigentlich nur eine Methode: er schlägt Krach in einer Form, die für nahestehende Personen gewöhnlich sehr schmerzlich wird. Er zerschlägt z.B. einen Spiegel oder beschädigt kostbare Sachen. Man kann ihm aber nicht recht glauben, wenn er sich nachträglich ernstlich damit auszureden versucht, er habe nicht gewußt, was er tue. Denn die Absicht, seine Umgebung treffen zu wollen, ist zu deutlich. Er wird sich in diesem Affekt stets an etwas Wertvolles halten und nie an unbedeutende Gegenstände. Wir ersehen somit, daß ein Plan vorhanden sein muß bei solchem Vorgehen.

In einem kleinen Kreis gewährt diese Methode wohl eine gewisse Geltung, die aber sofort verloren geht, wenn dieser Kreis verlassen wird. Dann muß solcher Mensch durch seinen Affekt mit der Umwelt leicht in Konflikt geraten.

Was die äußere Attitüde dieses Affektes betrifft, so tritt uns das Bild eines solchen Menschen sofort vor Augen, wenn wir nur den Namen dieses Affektes nennen hören. Es ist die feindliche Stellung gegen den anderen, die in ihrer vollen Stärke und Deutlichkeit in den Vordergrund tritt. Dieser Affekt zeigt die fast völlige Aufhebung des Gemeinschaftsgefühls. In ihn ist das Streben eines Menschen nach Macht hineingelegt, das bis zur Vernichtung des Gegners gehen kann. Insofern, als in den Affekten eines Menschen sein Charakter deutlich zutage tritt, bieten uns diese Erscheinungen ein leicht zu bewältigendes Problem, an dem wir unsere Menschenkenntnis üben können. Und so müssen wir zornige Menschen durchwegs als solche bezeichnen, die dem Leben feindlich gegenüberstehen. Um aber auch hier unsere Forderung nach einem System nicht außer acht zu lassen, sei nochmals darauf hingewiesen, daß sich jedes Streben nach Macht auf einem Schwäche-, einem Minderwertigkeitsgefühl aufbaut. Zu derartig ausgreifenden Bewegungen, zu solchen Gewaltmaßnahmen kann ein Mensch, der über das Maß seiner Kräfte beruhigt ist, nicht gelangen. Diese Beziehung darf nie übersehen werden. Gerade in einem Zornausbruch stellt sich uns der ganze Aufstieg vom Schwächegefühl in der Richtung auf das Ziel der Überlegenheit mit besonderer Deutlichkeit dar. Es ist ein billiger Kunstgriff, sein Persönlichkeitsgefühl auf Kosten des anderen und zu dessen Ungunsten zu erhöhen.

Unter den Faktoren, die Zornausbrüche außerordentlich erleichtern, ist besonders der Alkohol zu nennen. Bei manchen Menschen genügen oft nur ganz geringe Mengen. Bekanntlich besteht die Wirkung des Alkohols darin, daß er in erster Linie die Kulturhemmungen schwächt oder aufhebt. Ein vom Alkohol vergifteter Mensch benimmt sich so, als ob er nie der Kultur teilhaftig geworden wäre. Er verliert die Beherrschung, die Rücksicht auf andere, und was er in Zeiten, wo er vom Alkohol frei ist, noch mühsam bändigen und verbergen kann, seine Feindseligkeit gegen die Mitmenschen, kommt im Rausche ungehemmt zum Ausdruck. Es ist kein Zufall, daß gerade Menschen, die mit dem Leben nicht im Einklang stehen, zum Alkohol greifen, in dem sie eine Art Trost und Vergessenheit, immer aber auch eine Ausrede für das suchen, was sie gern erreicht hätten, aber nicht erreichen konnten.

Bei Kindern findet man Zornausbrüche viel häufiger als bei Erwachsenen. Oft genügt schon ein geringfügiger Anlaß, um ein Kind in Zorn zu versetzen. Das rührt daher, weil bei Kindern infolge des erhöhten Schwächegefühls die Linie ihres Geltungsstrebens deutlicher hervortritt. Ein zornmütiges Kind zeigt immer an, daß es um seine Geltung ringt und daß ihm die Widerstände, auf die es stößt, wenn nicht als unüberwindlich, so doch als besonders groß erscheinen.

Manchmal gehen die Tätlichkeiten, die außer Beschimpfungen den gewöhnlichen Inhalt von Zornausbrüchen bilden, so weit, daß sie den Zornigen selbst schädigen. Hier ist auch die Linie, die zum Verständnis des Selbstmordes führt. Es liegt darin das Bestreben, den Angehörigen oder der übrigen Umgebung einen Schmerz zuzufügen, um sich auf diese Weise für erlittene Zurücksetzung zu rächen.


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